Begrabt mein Herz in Wuppertal Höhenangst und ungestrafte Diebstähle

Uwe Becker erinnert sich an eine längst vergessen geglaubte Veranstaltung.

 Uwe Becker, 1954 in Wuppertal geboren, ist Chefredakteur des Wuppertaler Satiremagazins Italien und Mitarbeiter des Frankfurter Satiremagazins Titanic. Jeden Mittwoch schreibt er in der WZ über sein Wuppertal.

Uwe Becker, 1954 in Wuppertal geboren, ist Chefredakteur des Wuppertaler Satiremagazins Italien und Mitarbeiter des Frankfurter Satiremagazins Titanic. Jeden Mittwoch schreibt er in der WZ über sein Wuppertal.

Foto: Joachim Schmitz

Ich hatte es zunächst für einen Scherz gehalten, aber dann stand ich letzten Samstag tatsächlich auf dem Barmer Rathausvorplatz und bestaunte respektvoll das 50 Meter hohe Riesenrad. Wahnsinn, was man alles so mitten in der Stadt aufstellen darf. So etwas hat es in Barmen aber auch noch nicht gegeben. Die Veranstalter hatten zudem die gesamte Einkaufszone in eine zauberhafte Lichter-Kirmes verwandelt, bei der es alles gab, was eine gute Kirmes ausmacht.

Ich bin ehrlich: Mich interessierte das Riesenrad nicht wirklich. Als Kind bin ich diesem Fahrgeschäft aus dem Weg gegangen, da mir meine Höhenangst eine fröhliche Teilhabe an dieser Attraktion verweigerte. Daran hat sich bis heute leider nichts geändert, daher beäugte ich das mir angstmachende große Rad nur aus einer sicheren Distanz. Mit einem Backfisch-Brötchen in der Hand und unerträglicher Jahrmarkt-Musik in den Ohren, fiel mir plötzlich eine kürzlich besuchte Geburtstagsparty in Elberfeld ein, auf der überraschend zwei alte Mitglieder von „Ton Steine Scherben“ auftraten. Warum erinnerte ich mich gerade jetzt hier in Barmen daran? Dann schoss mir der Name der längst vergessen geglaubten Veranstaltung blitzschnell wie ein Pfeil ins Gehirn: „urbs 71“!

Hier auf dem Barmer Rathausvorplatz war vor fast 50 Jahren ein großes Zelt aufgebaut, in dem verschiedene Musik- und Kabarett-Veranstaltungen stattfanden: Unter anderem trat das Kölner Polit-Rock-Ensemble „Floh de Cologne“ und eben die damals noch unbekannten „Scherben“ auf. Immerhin weiß ich jetzt, dass ich Rio Reiser einmal leibhaftig gesehen habe, das hatte ich gar nicht mehr auf dem Schirm: „Es ist vorbei, bye, bye, Junimond!“ Ich weiß noch, wie ich bei „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ in Versuchung kam, einen der unbequemen Klappstühle im Zelt kurz und klein zu schlagen. Am Ende kaufte ich mir aber nur die Single der Berliner Kult-Band, trat auf dem Heimweg noch kurz gegen eine Mülltonne in der Reichsstraße und ging dann brav nach Hause.

Im Juni 1971 fand dieses große kommunale Kulturfestival mit insgesamt 270 Veranstaltungen in Wuppertal statt. Am Etat von rund 720 000 DM, beteiligten sich auch die Nachbarstädte Köln, Dortmund, Bochum, Krefeld und Oberhausen. Außerdem machten die anderen Städte mit eigenen Produktionen mit. Düsseldorf machte nicht mit, sie waren sich mal wieder zu fein dafür. Der Wuppertaler SPD-Kulturdezernent Dr. Dr. Klaus Revermann zeichnete für das von der CDU Wuppertal und den Arbeitgeberverbänden schwer kritisierte Festival verantwortlich, das von kleineren Skandalen überschattet war.

Das Stadttheater Dortmund beispielsweise gastierte in Wuppertal mit einem Stück, das das Wuppertaler Theater nach einer Intervention des städtischen Kulturausschusses nicht hatte uraufführen dürfen - Erasmus Schöfers politischen, aber harmlosen Schwank „Vielleicht bin ich schon morgen eine Leiche“, in dem ein Attentat auf den CDU-Vorsitzenden verabredet und in dem enthüllt wird: „Kiesinger ist eine Null“. Ich selber war damals Lehrling, Gewerkschaftsmitglied und stand politisch so sehr links, dass ich mit der Tatsache Rechtshänder zu sein nicht gut klar kam. Als damals 17-Jähriger war ich neben dem Auftritt von „Ton Steine Scherben“ besonders von einer Lehrlingsausstellung beeindruckt, in der die von ihren Meistern angeblich als „Steppensäue“ und „Stehwichser“ geschmähten jüngsten Arbeitnehmer feststellen konnten: „Wer acht Stunden feilt, braucht Hasch!“

Meine Antipathie gegen alle Unternehmer war zu dieser Zeit stark ausgeprägt. Ich lief zwar nicht Gefahr, in den Untergrund abzudriften und mich der Roten-Armee-Fraktion anzuschließen, doch reichte meine Feindschaft aus, um in einem großen Textilwarenhaus eine schwarze Baskenmütze und wenige Minuten später in einer Buchhandlung Taschenbücher von Dostojewskis „Schuld und Sühne“ und „Der Idiot“ zu klauen, wobei ich die Franzosenmütze bereits auf dem Kopf trug, ohne allerdings vorher das Preisetikett zu entfernen, was aber kurioserweise niemandem auffiel. Heute, Jahrzehnte später, schäme ich mich selbstverständlich für diese ungestraften Diebstähle. Zur Buße kaufe ich übertrieben viel im gut sortierten Buchhandel und kürzlich erst wieder relativ teure Unterhosen bei C&A.

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