EM Der neue Liebling der Nation

München · EM Vom Nobody zum Star: In zwei Spielen hat Robin Gosens das Herz der Fußball-Fans erobert. Auch dank eines Trikots von Thomas Müller

Robin Gosens wurde gegen Portugal zum Man of the Match gewählt.

Robin Gosens wurde gegen Portugal zum Man of the Match gewählt.

Foto: dpa/Philipp Guelland

Dass dieser Robin Gosens heute in der deutschen Nationalmannschaft spielt (und wie) – daran hat auch Thomas Müller einen großen Anteil. Als der Fußball und die Welt im März 2020 zum Erliegen kamen, befand sich Gosens im Zentrum der Corona-Pandemie. In seiner Dachgeschoßwohnung in Bergamo bereitete sich der Linksverteidiger von Atalanta auf einen Neustart vor. Sein ständiger Begleiter in diesen Tagen war ein DFB-Trikot von Müller. Marten de Roon, niederländischer Nationalspieler und Vereinskollege von Gosens, hatte es ihm vom Länderspiel mitgebracht. Müller war, ohne dass er das gewusst hätte, für Gosens eine Motivationshilfe, wie er sagte: „Dieses Trikot hat mir sehr durch die schwere Zeit geholfen. Ich habe mir gedacht: O.k., Junge. Wenn das alles wieder losgeht, musst du dafür sorgen, dass du in die Nationalmannschaft kommst.“

Eineinhalb Jahre später spielt Gosens zusammen mit Müller nicht nur in der Nationalmannschaft, sondern lebt mit dem Bayern-Spieler auf dem Trainingslager in Herzogenaurach in einer Wohngemeinschaft. Die Chemie zwischen den beiden scheint zu stimmen – auf und abseits des Platzes. Als sich Gosens gegen Portugal nach einer Stunde Spielzeit, einem Tor und zwei Vorlagen auswechseln ließ, habe ihn Müller auf dem Platz gefragt, warum er denn jetzt schon runtergehe. Gosens antwortete schlagfertig: „Lieber gute 60 Minuten als schlechte 90 Minuten.“ Der Atalanta-Profi erzählte die Anekdote in der Pressekonferenz nach Spielende mit einem schallenden Lachen. Müller wiederum adelte seinen Mitspieler zu „Robin Goalsens“. Seinen Nebenleuten Spitznamen zu verpassen, ist eine Müllersche Spezialität – und ein Qualitätsmerkmal: Alphonso Davies ist bei den Bayern der Roadrunner, Robert Lewandowski wurde zu Lewangoalski und Leon Goretzka mutierte gar zu Scoretzka.

Gosens und Müller sind noch in einer anderen Disziplin verbunden: Beide haben das Zeug zum Liebling der Nation, weil sie sowohl sportlich als auch verbal für Spektakuläres gut sind. Müller wurde bei der WM 2014 nach drei Toren gegen Portugal zum deutschen Darling. Sieben Jahre später wurde Gosens gegen denselben Gegner zum neuen Liebling der Fußball-Nation (die bei Turnieren nahezu deckungsgleich mit der Gesamt-Nation ist). Beim Interview nach Spielende präsentierte sich Gosens genauso direkt wie auf dem Platz und fragte den ARD-Reporter: „Kannst du mich mal zwicken? Ich glaube das nicht. Da geht mir einer ab.“

Innerhalb von nur sieben Länderspielen, davon zwei EM-Partien, ist Gosens vom Nobody zum Idol geworden. Die spanische Zeitung AS, zugegebenermaßen keine Freundin der leisen Worte, adelte den Linksverteidiger: „Deutschland ist noch so ein Biest. Das Biest war Gosens. Wahnsinnsspektakel des linken Verteidigers der deutschen Nationalmannschaft mit zwei Vorlagen und einem Tor.“ Nuno Gomes, Ex-Kapitän der Portugiesen, legte im Interview mit T-Online nach: „Jetzt kennt jeder Robin Gosens.“

Die Geschichte, die hinter dem 26-Jährigen steckt, ist genauso ungewöhnlich wie das Auftreten des Kickers. Mit 18 spielte der Sohn eines Niederländers und einer Deutschen (auch die Elftal hatte sich für ihn interessiert) noch in der Landesliga an der deutsch-niederländischen Grenze und jobbte an einer Tankstelle. Zum Vergleich: In diesem Alter hatte Kai Havertz bereits sein erstes Länderspiel absolviert. Erst über den Umweg Niederlande landete Gosens 2017 in Bergamo. Dort drillte ihn sein Trainer Gian Piero Gasperini und machte ihn zum Nationalspieler. Sein Offensivdrang sei auf die Spielweise zurück zu führen, die ihm bei Atalanta eingetrichtert worden sei, so Gosens: „Ich muss Mister Gaperini danken, dass er das aus mir herausgekitzelt hat.“ In der vergangenen Saison sammelte Gosens elf Tore und neun Vorlagen und war damit wie schon in der Vorsaison der torgefährlichste Verteidiger in einer der vier besten europäischen Ligen.Dass er niemals in einem Nachwuchsleistungszentrum spielte (ein Probetraining bei Borussia Dortmund scheiterte krachend), mag für Gosens zwar ein taktischer Nachteil sein – für Interviews ist das aber Gold wert. Der 26-Jährige ist in seiner Freude über den Sieg gegen Portugal so authentisch wie kaum ein anderer Kicker: „Das ist alles nicht in Worte zu fassen. Der Weg, den ich gegangen bin, ist unglaublich. Das ist einer der Abende, die ich niemals vergessen werde.“Optisch und verbal erinnert Gosens an einen anderen beliebten Gesprächspartner im DFB-Trikot: Lukas Podolski. Auch wenn ihn viele Leute darauf ansprechen, sehe er keine Ähnlichkeit mit Poldi, so Gosens lachend. „Seinen linken Huf hätte ich aber schon gerne.“ Dass Gosens nebenher Psychologie studiert, stört die Parallele zu Podolski ohnehin erheblich. Für den DFB ist der Verteidiger gleich aus doppelter Sicht ein Gewinn: zum einen natürlich sportlich. Zudem ist ein Sympathieträger wie Gosens einer, auf den sie beim zuletzt oft kritisierten DFB sehnlichst gewartet hätten.

Gut möglich, dass bald Gosens‘ Trikot in den Zimmern anderer Kicker hängt. Einer, der es aus der Landesliga zum EM-Star geschafft hat, ist nicht die schlechteste Motivationshilfe.

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