EM Das Turnier ist ein Spiegel der Pandemie

Meinung · Eine Führungsnation gibt es in der EU derzeit nicht - das wird auch in dieser EM sichtbar. Und: Das Konzept des paneuropäischen Fußballturniers ist gescheitert.

 Europa ist extrem nah zusammengerückt, fußballerisch als auch politisch: Es gibt keine Führungsnation mehr.

Europa ist extrem nah zusammengerückt, fußballerisch als auch politisch: Es gibt keine Führungsnation mehr.

Foto: dpa/Mike Egerton

Egal, wer diese Europameisterschaft gewinnt, die Erkenntnisse dieses Turniers sind schon jetzt offensichtlich. Europa ist extrem nah zusammengerückt, fußballerisch als auch politisch: Es gibt keine Führungsnation mehr.

Und das paneuropäische Turnierkonzept ist grandios gescheitert. Was Michel Platini seinerzeit als Präsident der Europäischen Fußball-Union durchgedrückt hat, ist ein echtes Desaster. Die Reisewege der Mannschaften sind unheimlich strapaziös, darin sehe ich auch einen Grund, warum die vermeintliche Höllengruppe mit Frankreich, Portugal, Deutschland und Ungarn als erste aus dem Turnier geflogen ist. Die ganze Europameisterschaft ist ein Spiegel der Pandemie, die vier Halbfinalisten haben besondere (Corona-)Geschichten. Italien, Spanien und England hat es im Verlauf der Coronakrise besonders krass erwischt. Es ist etwas Menschliches, in diesen Zeiten insbesondere als Nationalmannschaft zusammenzurücken. Das erleben derzeit auch die Dänen, die bei den Corona-Impfungen rasch vorankamen und sich durch Christian Eriksens Herzstillstand seit Wochen in ihrem eigenen Paralleluniversum bewegen. Auch die deutsche Mannschaft passt übrigens ins Bild: Ihr Auftritt spiegelt das pandemische Chaos in der Bundesrepublik wider. Gerade die Italiener und Engländer schreien sich in den Stadien die Seele aus dem Leib – weil sie so geknebelt worden sind. Wir alle sind so pandemiegeschädigt. Ich glaube nicht, dass uns Corona egal geworden ist, aber überall sind die Menschen müde. Und jetzt ist Halbfinale – vor allem die Engländer sind im Tunnelblick auf Wembley.Unstrukturiert, instinktiv Dass in den Halbfinals und dem Endspiel am Sonntag jeweils 60 000 Fans ins Stadion dürfen, ohne nennenswerte Abstandsregeln beachten zu müssen, ist vor allem den jungen Menschen schwer zu erklären. Ich war in den vergangenen Tagen auf den Kölner Ringen mit all den vielen Kiosken, Cafés und Nachtclubs unterwegs: Die Menschen suchen Kontakt, sie suchen nach all der Zeit des maximalen Abstands nun minimales Beisammensein. Wir haben uns selbst blockiert in der Corona-Zeit. Und erleben jetzt zum Teil etwas ganz Unstrukturiertes, geradezu Instinktives: Freude!Nicht tief genug Es dürfte nicht nur mir so gehen: Meine Bildschirmzeit hat sich in der Pandemie verdoppelt. Wir sind so fixiert auf Informationen und Nachrichten, dass wir alles aufsaugen wollen. Am liebsten die guten Nachrichten. Am liebsten etwas, das uns wissen lässt, wir bekommen nach all der Zeit der Einschränkung wieder ein bisschen Freiheit zurück. Dennoch glaube ich manchmal, dass der Stachel noch nicht tief genug sitzt. In Großbritannien, das in Europa mit bisher mehr als 128 000 Toten am härtesten getroffen wurde, wo sich die Delta-Variante rasant ausbreitet, sich täglich im Schnitt 25 000 Menschen anstecken, plant man mit großen Menschenmengen. Am 19. Juli, dem „Tag der Freiheit“, will Boris Johnson dann weitgehend alle Beschränkungen fallen lassen. Was gestern war? Ist Vergangenheit – und die kann uns in der Zukunft wieder einholen. Noch bis Sonntag ist Fußball-EM! Lasst uns diese Auszeit auf der Basis von bereits gelebter Gewohnheit einfach mal auf uns wirken.Mein Tipp: England wird das Turnier gewinnen. Warum? Vielleicht sind es die Zeichen, die uns vor Augen führen, dass sich die Zukunft nicht durch mathematische Prognosen faktisch bestimmen lässt. Doch von der EM 2020 wird vor allem dieser Zusammenhalt der Dänen hängenbleiben, die es geschafft haben, aus einer verzweifelten, kaum lösbaren Situation herauszufinden.Zur PersonDie Kölnerin Shary Reeves ist ein Multitalent: Moderatorin, Schauspielerin, Produzentin und Autorin. Die heute 52-Jährige spielte früher in der Bundesliga.

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