Serie Digital ist gut, aber nicht alles

Seit einem Jahr ist auch das Jobcenter im Ausnahmezustand – nach der Corona-Pandemie soll nichts mehr sein wie zuvor.

 Thomas Lenz ist Vorstandsvorsitzender des Jobcenters.

Thomas Lenz ist Vorstandsvorsitzender des Jobcenters.

Foto: Fries, Stefan (fr)

Das Jobcenter macht mobil. Nichts, fast nichts soll nach Ende der Pandemie so sein wie vorher. Seit einem Jahr ist auch die kommunale Arbeitsvermittlungs- und Sozialhilfeorganisation im Ausnahmezustand. Nur noch knapp 70 Beschäftigte arbeiten in den Büros unter anderem an der Bachstraße in Barmen. Die 630 Kollegen sind von zu Hause aus im Einsatz. Das erste Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens hat auch diese Behörde im März vergangenen Jahres weitgehend unvorbereitet getroffen.

Aber der Betrieb stellte sich schnell auf die neue Situation ein, berichtet der Vorstand des Jobcenters, Thomas Lenz. Er und seine Führungsmannschaft haben den Betrieb von einem Tag auf den anderen weitgehend schließen müssen. Es funktionierte und funktioniert vor allem auch deshalb, weil Digitalisierung an der Bachstraße und in den Außenstellen schon vor der Pandemie kein Fremdwort gewesen ist. Vorgänge sind längst digitalisiert und nicht mehr zwischen Aktendeckeln an Hängeregister gebunden. „Wir hatten auch ein wenig Vorbereitung durch die Sars-Epidemie Anfang der 2000-er Jahre“, sagt Lenz. Dennoch sei der Prozess nicht einfach gewesen. Das Wuppertaler Jobcenter betreut etwa 50 000 Menschen in der Stadt.

Für eine Vielzahl dieser Menschen ist es wichtig, dass der Kontakt nicht abreißt. Deshalb haben Lenz und sein Vorstandskollege Andreas Kletzander die Integrationshelfer des Jobcenters zu Telefon-Betreuern gemacht. Außendienst ist in Zeiten von Kontaktbeschränkungen kaum möglich. „Wir haben unsere Leistungsberechtigten angerufen“, sagt Kletzander.

Die Krise, die damit verbundenen Einschränkungen sind auch für eine Behörde und deren Beschäftigte belastend. Umso wichtiger ist es für Lenz und Kletzander, in der Pandemie Chancen für die Zukunft zu identifizieren. Beide sind überzeugt, dass es für das Jobcenter davon einige gibt. Die Veränderung der Arbeitswelt durch mehr Homeoffice, durch Videokonferenzen, durch eine fortschreitende Digitalisierung will das Wuppertaler Jobcenter für Angebote nutzen, die mehr Nähe zu den 50 000 Frauen, Männern und Kindern ermöglichen, die auf die Hilfe der kommunalen Einrichtung angewiesen sind. In Teilen schon erprobt, wollen Lenz und Kletzander im Stadtgebiet kleinere Einheiten schaffen, in denen Hilfsbedürftige sich Rat und Unterstützung verschaffen können. „Wir wollen in die Quartiere“, sagt Kletzander. Die Beratungsangebote sollen noch niederschwelliger werden und den Bedürftigen auf diese Weise schneller über bürokratische Hürden helfen.

Für das Jobcenter selbst entsteht an der Schwarzbach gerade eine neue Art Büro. Homeoffice hat die Führungsriege gelehrt, dass Anwesenheit am Arbeitsplatz jetzt anders definiert werden kann und andere Büroorganisationen möglich macht. Wie das in der Realität aussieht, will das Jobcenter in absehbarer Zukunft präsentieren.

Bis dahin und auch darüber hinaus gilt trotz Kontaktbeschränkung, dass die Berater auch persönlich für die Leistungsberechtigten da sind. „Das ist sehr wichtig“, sagt Lenz. Menschen im Sozialhilfebezug gehörten zu den größten Verlierern der Pandemie. „Sie büßen jetzt auch noch ihre letzten Sozialkontakte ein.“

Seit etwa einem Jahr sind die Jobcenter freier in der Bewertung der privaten Umstände eines Antragstellers. Es ist nicht mehr unbedingt so, dass er eine kleinere Wohnung beziehen und zunächst sein Erspartes aufbrauchen muss, ehe der Staat ihm hilft. „Wir sichern das Vermögen jetzt für zwei Jahre“, sagt Lenz und fordert eine dauerhafte Regelung in diesem Sinne. Er sieht darin mehr Motivation, sich wieder eine Arbeit zu beschaffen. „Wir machen das seit einem Jahr, und es funktioniert.“

Für Lenz stellt sich grundsätzlich die Frage, was SGB II eigentlich bewirken soll. Die Jobcenter sind gehalten, möglichst viele Menschen aus dem Leistungsbezug in den 1. Arbeitsmarkt zu bringen. Wuppertals Zahlen sind auf diesem Gebiet bemerkenswert. 2019 sind fast 8000 Leute mit Hilfe des Centers wieder unabhängig geworden, im vergangenen Jahr waren es trotz Corona noch fast 6000.

Es gibt aber auch die, denen das Jobcenter nicht mit einer Anstellung am 1. Arbeitsmarkt helfen kann. „Aber diese Menschen haben trotzdem ein Recht auf Teilhabe“, sagt Lenz. Das müsse gewährleistet werden. „Das macht unseren Sozialstaat doch aus.“

Lenz gehört nicht zu jenen, die auf das bedingungslose Grundeinkommen setzen. Als langjähriger Chef des Jobcenters weiß er, dass Menschen im Leistungsbezug eigentlich kein finanzielles Problem haben. Vierköpfige Familien werden mit fast 2500 Euro netto unterstützt, hinzu kommt Geld beispielsweise für Nachhilfestunden, Sozialversicherungen und Miete. „In Deutschland muss kein Kind hungern“, sagt Lenz.

Aber keine Arbeit zu haben, keine Struktur im Alltag, das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, nicht leistungsfähig zu sein, ist fast genauso schlimm wie Hunger. Langzeitarbeitslose kennen das Gefühl. Und davon gibt es auch in Wuppertal noch viel zu viele. Im vergangenen Jahr ist es dem Jobcenter gelungen, etwa 400 in Arbeit zu vermitteln. „Und wir haben kaum Abbrecher.“ Deshalb wird dieses Programm im laufenden Jahr um 180 Stellen erweitert.

Insgesamt gibt das Jobcenter Wuppertal 2021 fast 50 Millionen Euro für Aus- und Weiterbildung von Menschen Sozialhilfebezug aus. Das sind zehn Millionen Euro mehr als im vergangenen Jahr. Um noch bessere Erfolgsquoten zu erzielen, forciert Andreas Kletzander die Kooperation mit anderen Behörden und Einrichtungen. Die Zeit nach Corona soll das Jobcenter zu mehr Prävention führen. Die Berater sollen Familien als Ganzes und nicht als Einzelfälle jedes Mitglieds betrachten. Gesundheitsprogramme sollen Bedürftigen ein normaleres Leben ermöglichen.

Und wenn dieses Ziel jemals erreicht ist, bleiben immer noch genügend Menschen in Wuppertal übrig, denen sich die Betreuer an der Bachstraße und bald auch in der Bundesbahndirektion in besonderer Weise zuwenden müssen. Da sind einerseits alleinerziehende Frauen, die es mangels ausreichender Kitaplätze in Wuppertal äußerst schwer haben. „Und bei uns leben 8000 Frauen, die ganz allein sind“, sagt Kletzander. „Und Einsamkeit macht krank.“

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