Kolumne Eine spirituelle Erfahrung

Die Geschichte des jüdischen Gebetsschals, hebräisch „Tallit“ genannt, reicht bis weit in die heidnische Zeit zurück.

 Wuppertal

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Foto: Fries, Stefan (fri)

Die Geschichte des jüdischen Gebetsschals, hebräisch „Tallit“ genannt, reicht bis weit in die heidnische Zeit zurück. Man trug im Nahen Osten zum Schutz gegen Hitze, Wind und Staub als Teil des Gewandes einen breiten Schal aus Wolle oder Leinen. Damit die Männer ihren Schal von dem der Frauen unterscheiden konnten, zogen sie bunte Fäden durch die Ecken.

In den Jahrtausenden der Kulturgeschichte kann man immer wieder beobachten, dass es leichter ist, den Menschen etwas Neues zu vermitteln, wenn man auf vertraute Strukturen zurückgreifen kann.

Lassen Sie uns zurückschauen auf die Verkündung der Gebote am Sinai. Es heißt, dass alle Generationen, Männer, Frauen und Kinder, bei diesem Ereignis anwesend waren. Die Menschen, die es wirklich körperlich erlebt haben, waren sicher zutiefst bewegt und voller guter Vorsätze, die Gebote auch einzuhalten. Doch wir wissen, wie schnell Menschen wieder in ein altvertrautes Fahrwasser der Gewohnheiten geraten. Das war auch unserem großen Lehrer Mosche nicht entgangen und so befahl er den Israeliten im Namen Gottes, sich als Erinnerung sogenannte „Schaufäden“ durch die vier Ecken ihrer Schals zu ziehen und diese in einer  bestimmten Weise zu wickeln und zu knoten,  jeweils acht Fäden und fünf Knoten  an jeder Ecke.

Einer der Fäden sollte länger und von purpurblauer Farbe sein. Martin Luther hat diese Schaufäden (hebräisch Zizit) mit Quasten übersetzt (4. Mose 15, 37-41). Übrigens: Als es noch kein Handy als Gedächtnisstütze gab, machte man sich einen Knoten ins Taschentuch, um sich an etwas Wichtiges zu erinnern. Hätten Sie gedacht, dass dieser Brauch so alte Wurzeln hat? Aber zurück zu den Schaufäden. Die purpurblaue Farbe wurde aus einer Schnecke gewonnen, die mittlerweile seit mehr als 2000 Jahren ausgestorben ist. Also blieben die Schaufäden seither weiß. Später hat man zur Erinnerung daran in den Tallit blaue Streifen gewebt.

Warum genügt nicht ein Schaufaden mit einem Knoten? Es muss ein rechteckiger Schal sein, denn die vier Ecken verweisen auf die vier Himmelsrichtungen und sagen uns, dass Gottes Gebote uns überall verpflichten, egal in welchem Teil der Welt wir gerade sind. Wie schon öfter erwähnt, haben die hebräischen Buchstaben einen Zahlenwert und die acht Fäden und die fünf Knoten, die in einer bestimmten Art gewickelt und geknüpft werden, ergeben einerseits den Gottesnamen „Der Einzige Gott“ und andererseits die 613 Ge- und Verbote.

Der Tallit wird zum Morgengebet angelegt und beim Glaubensbekenntnis, dem “Schma Israel“, nimmt man die Schaufäden aller vier Ecken in die Hand, um sich der Verantwortung für die Welt unter den Augen Gottes intensiv bewusst zu werden. So beginnt für praktizierende Juden jeder neue Tag. Nur am 9. Av, dem besonderen Trauer- und Fastentag, legt man den Tallit nicht an, weil man sich an diesem Tag jede Freude versagt. Auch abends wird er nicht getragen, denn man soll die Schaufäden ja sehen können. Nur am Jom Kippur, dem höchsten Feiertag, an dem man Gott ganz besonders nahe sein möchte, trägt man ihn schon am Vorabend und am ganzen nächsten Tag beim Gebet. Mancher Mensch lässt sich auch im Tallit beerdigen. Vorher werden allerdings die Schaufäden entfernt, denn ein verstorbener Mensch braucht keine Gebote mehr zu erfüllen.

Dieses schlichte Kleidungsstück, das sowohl Männer als auch Frauen trugen, wurde durch die Funktion als Gebetsschal enorm aufgewertet und im Laufe der Zeit immer sorgfältiger aus Wolle, Leinen oder gar Seide hergestellt. Die Ecken für die Schaufäden wurden verstärkt und bestickt. Eine der breiten Seiten bekam eine Art Kragen. Diese Borte wird bis heute mit dem Segensspruch bestickt, den man spricht, bevor man sich in den Tallit zum Gebet hüllt. Die Zizit müssen übrigens aus dem gleichen Material sein wie der Schal, also etwa Leinen zu Leinen oder Wolle zu Wolle. Das hat mit dem Vermischungsverbot der Koscher-Bestimmungen zu tun. Diese verbieten nicht nur das Vermischen von Milch und Fleisch, auch das Vermischen pflanzlicher und tierischer Stoffe, das Aufpfropfen unterschiedlicher Obstarten, das Pflügen mit ungleich starken Tieren usw. (3. Mose 19,19).

Als nach und nach immer mehr Synagogen entstanden, fanden sich meistens Männer zum Gebet und zum Studium der heiligen Schriften ein. Es war eine patriarchalische Gesellschaft und die Männer erklärten diesen Gebetsschal zu einem männlichen Kleidungsstück, das für Frauen verboten sei. Sicher haben sie dabei nicht bedacht, dass wir alle am Sinai die Gebote empfangen haben und sicher wollten sie damit nicht zum Ausdruck bringen, dass männliche Gedächtnisse mehr Unterstützung brauchen.

So haben sich in der Reformbewegung die Menschen über dieses Verbot hinweggesetzt und der Tallit wird auch von Frauen zum Morgengebet getragen. Überhaupt gehen manche sehr kreativ damit um. Es gibt ihn in allen Größen und auch mit bunten Streifen. Es ist aber eine besondere spirituelle Erfahrung, sich am Morgen in der Betergemeinschaft in den Tallit zu hüllen. Man ist bei sich und doch in der Gemeinschaft und man weiß, dass es rund um den Globus Menschen gibt, die sich in Demut vor ihrem Schöpfer verneigen und bereit sind, für seine Schöpfung Verantwortung zu übernehmen.

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