Rachefeldzug mit Tunnelblick

„Der Besuch der alten Dame“: Das Regie-Konzept überzeugt — allerdings nicht auf ganzer Linie.

Wuppertal. Die Moral bleibt auf der Strecke. Wenn Claire Zachanassian (An Kuohn) selbstbewusst die Notbremse zieht, um einen Zug zu stoppen, der aus Prinzip nicht mehr im maroden Güllen hält, ist das Drama nicht mehr aufzuhalten. Der rothaarige Racheengel hat seine Ankunft, die Rückkehr in die Heimat, perfekt inszeniert — und die Bürger, denen nicht viel mehr geblieben ist als weiße Unterwäsche, können nichts anderes machen, als abzuwarten, was die alte Dame mit ihnen vorhat.

Ganze Schüler-Generationen kennen Claires unmoralisches Angebot und wissen deshalb längst: Die Stadt Güllen, in der kein wichtiger Expresszug mehr hält, weil es hier nichts mehr zu holen gibt, ist am Ende. Dabei war die Premiere im gut gefüllten Remscheider Teo Otto Theater erst der Anfang: Ab dem 17. Mai ist „Der Besuch der alten Dame“ im Barmer Opernhaus zu sehen.

Romantik lässt Sybille Fabian gar nicht erst aufkommen: Ihre grotesken Figuren stehen nicht im Wald (höchstens sprichwörtlich), sondern in einem gräulichen Tunnel, den zehn Neonröhren keinesfalls attraktiver machen. Im Gegenteil: Ein Haufen Dreck liegt ganz hinten — am Ende der großartigen Kulisse (Bühne: Herbert Neubecker), die wie ein billiges Grab in einer schäbigen Bahnhofsunterführung wirkt. Und in der Tat: Alfred Ill (Harald Schwaiger), der Claire einst für Geld verraten hat, wird im Dreck landen. Dass ihn seine Mitbürger opfern, ist abzusehen — weil Claire, inzwischen reich verwitwet, eine Milliarde lockermacht, wenn sein Kopf rollt.

Der Stoff ist willkommenes Futter für An Kuohn: Die Hauptdarstellerin ist eine Mischung aus schriller Zirkusdirektorin, hartherziger Ritterin und männlicher Rachegöttin. Herrlich-herrisch ruft Claire nach dem Butler. Dumpf und laut tritt die Prothesenträgerin auf — mit spitz aufgesetztem Rückfuß. Am Ende tanzt sie als abgedrehte Braut — mit Glatze. Überhaupt ist die Körpersprache grandios: Wie Gefangene stehen die Güllener da — die Schuhe wie mit Fußfesseln zusammengebunden. Der ganze Körper schreit nach Hilfe (und neuem Wohlstand). Jeder macht sich auf seine Weise schuldig, und dass einzelne von ihnen — vor allem Ill — die Hände vor dem Körper halten, als seien sie in einer Zwangsjacke gefangen, entlarvt auf skurrile Art ihre Handlungsunfähigkeit.

Fabian findet Bilder, die faszinieren, und formt erneut ein Ensemble, das beeindruckt. Die Güllener zittern, zucken, zappeln. Je verzweifelter, desto besser. Während Schwaiger der einstigen Geliebten anfangs wenig überzeugend entgegentritt („Wie schön du bist!“) und ihn Kuohn spielerisch an die Wand drückt, wird er umso stärker, wenn er wie ein Tier gejagt wird. Eine Straffung hätte dem bilderreichen Rachefeldzug — der zwei Stunden und 15 Minuten dauert — allerdings gut getan. Eingestreute Szenen, in denen kurios getanzt oder quälend langsam agiert wird, nehmen dem Ganzen die Spannung. Außerdem wirken die Techno-Beats auf Dauer eher ermüdend als aufrüttelnd.

Immer wieder verließen am Samstag Zuschauer den Saal. Wer blieb, applaudierte dafür lang: Begeisterte Pfiffe gab es für eine Inszenierung, die nicht nur in Schulen für angeregte Diskussionen sorgen dürfte. Fabian inszeniert zeitgemäß, hat den modernen Klassiker aber nicht „gegen den Strich gebürstet“. Ohne langatmige Szenen, in denen mitunter minutenlang nicht gesprochen wird, wäre „Der Besuch der alten Dame“ ein pausenlos packender Abend. So aber bleibt nicht nur die Moral, sondern auch die bissig-banale Botschaft (Geld regiert nunmal die Welt) — zumindest stellenweise — auf der Strecke.

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