Archaische Kraft in zahnlosen Mündern

Die Von der Heydt-Kunsthalle zeigt faszinierende Fotoarbeiten von Roger Ballen.

Archaische Kraft in zahnlosen Mündern
Foto: Stefan Fries

Von Anne Grages

Wuppertal. Man geniert sich erst, genauer hinzusehen. Die Menschen auf den Fotografien von Roger Ballen wirken oft wie Insassen einer geschlossenen Anstalt. Ihre Körper sind deformiert und in seltsamen Posen erstarrt, ihre Mimik ist gewöhnungsbedürftig direkt, die offenen Münder häufig zahnlos. Genau das reizt zugleich ungemein die Neugier und eine beklemmende Schaulust - man kennt das vom Starren auf Autounfälle.

Doch bei den Fotografien und Filmen, die bis zum 7. August in der Von der Heydt-Kunsthalle zu sehen sind, geht es weder um Unfälle noch um Krankheiten. Der US-Künstler Roger Ballen, der seit mehr als 30 Jahren in Südafrika lebt, fotografiert vor allem Buren. Die Nachfahren der niederländischen Einwanderer halten sich heute noch für Vertreter einer weißen Herrenrasse, obwohl sie seit dem Ende der Apartheid in oft erbärmlichen Verhältnissen leben — teilweise in Wellblech-Konglomeraten, ohne Zugang zu Schulen und ärztlicher Versorgung.

Ballen wurde 1950 in New York geboren, seine Mutter Adrienne hat für die bekannte Fotoagentur Magnum gearbeitet — er kam also früh in Kontakt zu den großen Fotografen der 50er und 60er Jahre. Er hat später in Kalifornien Psychologie studiert, ist jahrelang durch Asien gereist, hat in Südafrika als Unternehmer Geld durch Minen gemacht.

All das schlägt sich in den Fotografien und Videos nieder, die Ballen zu einem außergewöhnlich eigenständigen und weltweit ausgestellten Vertreter seiner Kunst machen. Das Faszinierende an seinen Arbeiten ist, wie er einen dokumentarischen Blick auf eine fremde, eine bizarre Lebenswelt mit kreativer Inszenierung verbindet. Und all das ohne Rücksicht auf eine wie auch immer geartete „political correctness“.

Die Ausstellung, die die Kunsthistorikerin Beate Eickhoff vom Von der Heydt-Museum kuratiert hat und die in Teilen bereits in Monschau und Herford zu sehen war, vollzieht Ballens künstlerische Entwicklung über 40 Jahre anschaulich nach.

Angefangen hat er während seiner ausgedehnten Reisen mit Straßen-Aufnahmen von überwiegend unbeschwerten Kindern und Jugendlichen, die die Sehnsucht nach seiner eigenen Kindheit ausdrücken — kurz zuvor war seine Mutter gestorben. Davon zeugt die Serie „Boyhood“

In Südafrika entdeckt er Anfang der 80er Jahre über die Tätigkeit mit den Minen die abgelegenen ländlichen Gebiete und die Dorps, die Ortschaften der Buren. Zunächst konzentriert er sich auf die Häuser im Edwardianischen Stil, deren einstige Kolonial-Pracht längst verblichen ist. Mit der Serie „Platteland“ rückt er zwischen 1987 und 1994 nah an die Bewohner heran, porträtiert sie in ihre kahlen Behausungen, die sie jedoch selbst und von Ballen angeregt künstlerisch gestalten. Oder durch das dynamische Video „I Fink U Freeky“ toben, das im Netz 75 Millionen Klicks erzielt hat.

Von unterwegs bringt der Fotograf ganze Wagenladungen von Brettern, Draht und Abflussrohren mit, die die Leute tatsächlich brauchen, die sie aber auch verfremdet nutzen. Aus allem lässt sich etwas machen: Rohre werden wie Prothesen über Arme gestülpt, eine Puppe hängt am Kreuz, der Brustkorb eines Skeletts wird zum Vogelkäfig.

Ballin lotet die psychischen Befindlichkeiten aus, hat aber einen strengen Rahmen für seine Arbeiten entwickelt: Er fotografiert ausschließlich schwarz-weiß, in quadratischer Form und vor kahlen Wände, das macht die Deformationen der Menschen noch deutlicher. Insbesondere weiße Kritiker in Südafrika werfen ihm vor, er führe seine Modelle vor — seine Werke passen auch nicht zum Selbstbild der weißen Oberschicht.

Doch seine Bilder sind von Ausbeutung weit entfernt. Stattdessen zeigen sie Selbstbewusstsein und archaische Kraft von Menschen in einer Umgebung, die einem durchschnittlichen Mitteleuropäer wie ein Alptraum erscheint — eine irritierende Erfahrung. Und überall sind Tiere: Tauben, Hühner, Enten, Ratten, Katzen, Hunde, ein liebevoll umarmtes Schwein. Sie sollen Wärme spenden, nicht nur physisch. Doch der Hang zu Fürsorge und Nähe ist ein trügerischer Zwischenzustand. Schnell ist das Huhn mitsamt Federn und Füßen über dem Holzfeuer aufgespießt.

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