Nach Handball-Unfall Das ist die rührende Jo-Deckarm-Story

Osnabrück · Vor 40 Jahren schlug der Weltklasse-Handballer in Ungarn auf einem Beton-Hallenboden auf. Seither lebt er mit Behinderung – und Helfern für ein lebenswertes Leben.

 19. Januar 2019: Während eines deutschen Spiels bei der Handball- WM in Köln wird Jo Deckarm anlässlich seines 65. Geburtstags in der Pause gefeiert.

19. Januar 2019: Während eines deutschen Spiels bei der Handball- WM in Köln wird Jo Deckarm anlässlich seines 65. Geburtstags in der Pause gefeiert.

Foto: dpa/Marius Becker

„Das schreckliche Sterben des Handballers Jo Deckarm“ – so reißerisch titelte eine Illustrierte irgendwann im Sommer 1979. Knapp 40 Jahre später saß der Totgesagte in seinem Rollstuhl in der Kölner Lanxess-Arena, 19 000 Menschen sangen Happy Birthday für ihn, Wunderkerzen brannten, Jo Deckarm lachte vor Glück und winkte ins Publikum. Es war sein 65. Geburtstag, einer der ganz großen Gänsehautmomente der deutschen Sportgeschichte. Jo Deckarm lebt – er lacht und spricht, er reißt Witze und diskutiert, er trainiert und schaut beim Handball zu. Joachim Deckarm lebt, und daran haben viele Anteil.

Der ungarische Arzt

Dr. Peter Penkov sitzt am 30. März 1979, einem Freitag, in Tatabanya vor dem Fernseher und bleibt beim Handball hängen. Banyasz Tatabanya, der Verein aus seiner Nachbarschaft, spielt im Europapokal gegen den VfL Gummersbach. Nach etwa zwanzig Minuten sieht der Mediziner, wie zwei Spieler zusammenprallen, beide gehen zu Boden, der Deutsche schlägt mit dem Kopf auf und rührt sich nicht mehr. Penkov braucht keine Minute, um den Ernst der Lage zu erkennen. Und in der Halle ist niemand, der erste Hilfe leistet: Kein Arzt, kein Sanitäter ist vor Ort, nicht mal eine Trage gibt es. Als die Gummersbacher Spieler und Betreuer ihren Teamkollegen in die Kabine tragen, ist Dr. Penkov schon zur Halle geeilt. Er leitet die erste medizinische Nothilfe ein, bringt Deckarm ins nächste Krankenhaus und eine Stunde später in die Johannisklinik nach Budapest. Ohne Penkov, so viel scheint sicher, hätte der deutsche Handballer den 30. März 1979 nicht überlebt.

Schon bewusstlos nach dem Zusammenprall mit seinem Gegenspieler, war Deckarm unkontrolliert mit dem Kopf auf den Boden geschlagen – ein Betonboden, überzogen nur von einer dünnen Schicht PVC. Kein Vergleich mit den modernen Schwingböden, auf denen sich Deckarm höchstens einen Brummschädel eingehandelt hätte. So aber lautete die Diagnose: Doppelter Schädelbasisbruch, zehn Zentimeter langer Riss der Gehirnhaut, schwere Quetschungen des Gehirns. In Budapest wird Deckarm stabilisiert, ehe er Ende April in die Uniklinik Köln geflogen wird.

 30. März 1979, Tatabanya, Ungarn: Der deutsche Handballer Joachim Deckarm liegt im Europapokalspiel mit einer Kopfverletzung auf dem Boden.

30. März 1979, Tatabanya, Ungarn: Der deutsche Handballer Joachim Deckarm liegt im Europapokalspiel mit einer Kopfverletzung auf dem Boden.

Foto: dpa/DB

Die Deutsche Sporthilfe

Noch am Tag des Unglücks beschließen Josef Neckermann, Gründer und Chef der Sporthilfe, sein Direktor Helmut Meyer und die Funktionäre des Deutschen Handballbundes eine umfassende Soforthilfe. Zwei Gehirnspezialisten fliegen nach Budapest, unterstützen das dortige Ärzteteam. Aus der Blitzaktion wird im Laufe der Zeit eine Dauerhilfe: Unter dem Dach der Deutschen Sporthilfe entsteht der Jo-Deckarm-Fonds, gespeist von Spenden und Einnahmen aus Benefizaktionen, der bis heute dafür sorgt, dass Jo Deckarm die beste medizinische und pflegerische Hilfe bekommt.

Der Mann, der von Anfang an ihn geglaubt hat

Am 8. August 1979 bricht beim Training des VfL Gummersbach Jubel aus, es fließen Freudentränen. Gerade haben die Handballer erfahren, was am nächsten Tag ganz Deutschland rührt: Jo Deckarm ist bei Bewusstsein! „Er zeigt Reflexe und Reaktionen, er bewegt Arme und Beine, und kann sich im Bett aufrichten“, hat Vater Rudolf Deckarm aus der Uniklinik Homburg berichtet. Zusammen mit Ehefrau Ruth und den drei Brüdern von Jo hat der herzkranke Mann den Sohn in dessen schwersten Wochen nicht alleingelassen.

Doch als das zweite Leben langsam und mühsam beginnt, als Deckarm im Sommer 1982 als Pflegefall ins Haus der Eltern zurückkehrt, ist die Familie überfordert. Der Sohn sitzt im Rollstuhl, er kann nicht sprechen, die Lage scheint aussichtslos. Dann kommt Werner Hürter. Er hat einst das Handballtalent des Jungen entdeckt und gefördert, jetzt stimuliert der pensionierte Polizist den Willen und die Kraft seines Schützlings. Es wird seine Lebensaufgabe, die er mit Geduld und Unermüdlichkeit ausfüllt. Jeden Tag trainiert er mit Deckarm, fährt ihn zu Behandlungen, übt mit ihm Sprechen, später spielt er Schach mit ihm, geht mit ihm Schwimmen. Jeden Tag, stundenlang. 13 Jahre lang. Sein Vorbild strahlt aus, um Deckarm bildet sich ein Netzwerk aus treuen Helfern.

Gleich zu Beginn hat Hürter, der 1995 gestorben ist, ein Gedicht an die Wand in Deckarms Zimmer gehängt: „Sollte Dir mal was nicht gelingen, zeige keinen Verdruss. Handle stets nach dem Grundsatz: Ich kann! Ich will! Ich muss!“ Es wird zu Deckarms Lebensmotto.

Die Weltmeister von 1978 und Tausende anderer Handballer

„Er hat uns zusammengeführt und zusammengehalten“, sagt Kurt Klühspies, einer aus der Mannschaft, die 1978 für Deutschland den Weltmeister-Titel gewann. Ein ganz besonderes Team, das bis heute eng zusammenhält und sich mit nie nachlassendem Einsatz um Jo Deckarm kümmert. Großes Aufhebens machen Heiner Brand, Horst Spengler, Claus Fey und die anderen nicht davon, aber sie sind da. Damals, in den ersten Wochen nach dem Unfall von Tatabanya, dachte einige von ihnen daran, mit dem Handball aufzuhören, so groß waren der Schock und die Sorge. Sie hatten wenig Hoffnung, und umso glücklicher sind sie jetzt. Mit ihrem Engagement steckten sie andere an: Die nachwachsenden Generationen von Handballern, die Deckarm nie spielen sahen, sich aber ebenso für ihn einsetzen wie Tausende Handballer und Sportler, die mit ihren Benefizaktionen helfen. Sie haben – wie alle anderen, die für Deckarm da waren und da sind – ihren Anteil da­ran, dass er nicht zu einem hoffnungslosen Pflegefall wurde.

Joachim Deckarm selbst

Er war nach übereinstimmender Expertenmeinung der beste Handballer der Welt, als er mit der deutschen Nationalmannschaft 1978 in Kopenhagen den WM-Titel gewann. Ein herausragender Einzelkönner, aber immer ein Teamspieler. Bescheiden, freundlich, witzig. Ein Athlet, 1,94 Meter groß, 85 Kilo schwer. Als er in Tatabanya mit dem Kopf auf den Boden schlug, war er 25 Jahre jung, hatte 104 Länderspiele bestritten und dabei 381 Tore erzielt, den Europapokal gewonnen, und das sollte nicht alles gewesen sein.

Doch dann zerbrach sein erstes Leben, und dass er ein zweites Leben bekam, verdankt er vielen Menschen, vor allem aber sich selbst. Was das Wichtigste sei in seinem Leben, wurde er in einem seiner ersten Interviews nach dem Unfall gefragt. Er antwortete mit schwerer Stimme, aber klar: „Üben, üben, üben!“ Und dann lachte er. Er mobilisierte all seinen Willen, wie früher als Sportler, und er verlor nie seinen Humor. Er musste alles neu lernen: Gehen, sprechen, schreiben. Nur eins war von Anfang an da: Er glaubte an sich, weil andere an ihn glaubten.

Seit dem vergangenen Jahr ist er wieder in Gummersbach, hat einen Platz in der Seniorenresidenz gefunden. Er feiert seinen Geburtstag mit 19 000 Menschen in der Lanxess-Arena, er trifft sich mit den alten Weltmeister-Kumpeln, schaut Handball beim VfL Gummersbach oder beim Jugendturnier irgendwo. Er kommt im Rollstuhl zum Ball des Sports, er lächelt, er winkt, er freut sich. Des Lebens.

Die Lebensgeschichte von Joachim Deckarm hat der Journalist Rolf Heggen in dem Buch „Teamgeist – die zwei Leben des Jo Deckarm“ nachgezeichnet.

Der „Hilfsfonds Joachim Deckarm“ der Stiftung Deutsche Sporthilfe sammelt weiter Spenden: Commerzbank Frankfurt, IBAN DE40 5008 0000 0093 2103 00.

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