Jüdische Kulturtage Eine Lesung, die tief erschüttert

Grossmanns Buch „Aus der Zeit fallen“ bei Jüdischen Kulturtagen.

 (v.l.) Miko Greza, Lena Vogt und Martin Petschan lasen aus Grossmanns Buch im Theater am Engelsgarten.

(v.l.) Miko Greza, Lena Vogt und Martin Petschan lasen aus Grossmanns Buch im Theater am Engelsgarten.

Foto: Bartsch,G. (b13)

Wie sprechen, wenn die Sprache abhanden gekommen ist, wie Unfassbares in Worte fassen? Wenn Kinder sterben und Eltern sie überleben (müssen), gerät das Leben aus den Fugen. Um diese essentiellen Themen kreist das Buch „Aus der Zeit fallen“, das David Grossmann, einer der bedeutendsten Schriftsteller der israelischen Gegenwartsliteratur, verfasst hat. Im Rahmen der Jüdischen Kulturtage war es Thema einer Lesung mit Ensemblemitgliedern des Schauspiels Wuppertal am Sonntagabend im Theater am Engelsgarten.

2013 veröffentlichte der 1954 in Jerusalem geborene Grossmann das nur 120 Seiten umfassende Werk. Der Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels und Friedensaktivist verarbeitete darin den Tod seines Sohnes Uri, der mit 20 Jahren gestorben war. Der Soldat war 2006 von einer Panzerabwehrrakete im Libanonkrieg zerfetzt worden. Ein Schicksal, das ein sehr persönliches Buch hervorgebracht hat, zugleich für viele Schicksale steht, weshalb der Autor die Reduzierung des Romans auf seine Person ablehnt. 2009 hatte er in seinem bekanntesten Werk „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ bereits eine Mutter auf eine Odyssee durch Israel geschickt, um der Nachricht vom Tod ihres Sohnes im Krieg durch dauernde Bewegung zu entkommen.

„Aus der Zeit fallen“ setzt das Thema und das Motiv fort. Nur dass diesmal der Vater die Bewegung als Überlebensstrategie wählt. Fünf Jahre, nachdem die zerstörende Nachricht in das Leben der Eltern kam und eine „Zeit des Schweigens“ anbrach, zieht er klagend um sein Haus, sein Dorf. Viele schließen sich ihm an - eine Frau, ein Schuster, ein greiser Rechenlehrer und andere. Sie stimmen in seine Klage ein, weil auch sie ein Kind verloren haben. Ein jeder mit seinen schmerzenden Gedanken, die er im Dialog mit sich selbst formuliert. Alle zusammen fügen sich zu einer Art Prozession, die Fragen stellt und Antworten sucht.

Alles fügt sich zu einem
Klagelied zusammen

Barbara Noth, Dramaturgin am Wuppertaler Schauspielhaus, hat Grossmanns zutiefst berührendes Buch ausgesucht, weil sie ihn schätzt, auch anderen „Lust darauf“ machen will. Ein Autor, so Noth, „der für das Theater mitdenkt“, indem er Bücher schreibt, die wie für die Bühne gemacht sind. Weshalb sie dort auch schon des Öfteren zu sehen waren. „Aus der Zeit gefallen“, das Anne Birkenhauer wunderbar ins Deutsche übertragen hat, wurde 2013 im Deutschen Theater Berlin erstmals aufgeführt. Auch eine Lesung profitiert von Grossmanns genreübergreifender Mischung aus Dialogen, Monologen und Kommentaren, die wie Regieanweisungen wirken. In Verssprache gehalten fügen sich seine Worte zu einem einzigen langen Gedicht, einem Klagelied, zusammen. Miko Greza, Lena Vogt und Martin Petschan lasen im raschen Wechsel die selbstquälerischen Dialoge, gaben behutsam, gefühlvoll und gekonnt den Menschen ihre Stimme.

Der Mann der „zu dem Ort“ des Sohnes gehen muss, „weil wir hier sind und er dort“. Und der zu diesem spricht: „Aus der Zeit gefallen bist du, aus der Zeit, in der ich bin und an dir vorübergeh.“ Der Frau, die „wie mit einer spitzen Schere ausgeschnitten“ wurde „aus dem Bild meines Lebens“, und die weiß, dass „Gehen leichter ist als bleiben, weil es kein Dort gibt“. Das erkennt schließlich auch der Vater, und so spricht er am Ende von Buch und Lesung: „Und mir bricht es das Herz ... dass ich dafür die Worte fand“.

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