Schicksal Herzinfarkt mit 30: Krefelder Gastronom Sayed Habibi zieht Notbremse

Krefeld · Kaum hatte Sayed Habibi sein afghanisches Restaurant eröffnet, kam Corona. Doch das war längst nicht alles. Über einen Menschen, der sich selbst riskiert.

Sayed Habibi sucht noch ein Ziel, mit dem er und seine Familie glücklich werden können.

Sayed Habibi sucht noch ein Ziel, mit dem er und seine Familie glücklich werden können.

Foto: Andreas Endermann

Es ist ihm schon genug passiert, aber Sayed Habibi, 29, dunkle Haare, weiches Gesicht, muss einfach. Also eröffnet er im Dezember 2019 das erste afghanische Restaurant Krefelds (die WZ berichtete). Seine Erfahrungen in der Gastronomie beschränken sich vor allem auf einen Thekenjob im trinkfesten „Oberbayern“ in der Düsseldorfer Altstadt. Seine Tage beginnen um vier. Erst zur Ausbildung bei der Rheinbahn, Betriebselektroniker, dann ins „Kabul Haus“ an der Evertsstraße. Klar, er hätte den hundertsten Dönerladen, die hundertste Pizzeria eröffnen können. Das hätten die Leute sofort kapiert. Aber er will etwas anderes: Krefeld die Gastfreundlichkeit seiner Heimat Afghanistan näherbringen, aus der er 2013 geflüchtet ist. Afghanische Restaurants gibt es in der Region kaum, eines in Kaldenkirchen, eines in Wuppertal und eines in Essen. Das Risiko ist hoch, dass die Sache schiefgeht. Ein Onkel gibt ihm Geld, die Familie hilft mit. So sieht man dort 2020 in dem kleinen Restaurant häufig einen Mann stehen in weißem Hemd und dunkler Stoffhose, der seriös wirkt, aber nicht kühl. Damals erzählt er, dass sein Familienname auch sein Rufname sei. Habibi, das bedeute „Mein Schatz“, und ein Schatz wolle er bleiben.

Die afghanische Küche ist zwar in Deutschland unbekannt, eine Herausforderung sind die Gerichte aber nicht, die Habibi serviert, zumindest wenn man schon mal Türkisch oder Indisch essen war. Auf der Speisekarte steht zum Beispiel Kabuli Palau, das populärste Gericht des Landes, nicht kompliziert, dauert aber, denn der Reis muss erst quellen und dann bei niedriger Temperatur gekocht werden. Der Reis wird nicht getrennt zubereitet, sondern mit Lammfleisch, Brühe, Möhren, Rosinen, Mandeln, Kardamon. So nimmt er den Geschmack der anderen Zutaten an. Den Reis importiert Habibi tonnenweise aus Afghanistan. Auf der Karte stehen auch Mantu, mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen, Sambusa, mit Kartoffeln gefüllte Teigtaschen, Kebap-Gerichte, Shor Nakhod, eine Suppe mit Kartoffeln und Kichererbsen. Für die Nan-Fladen schafft Habibi einen speziellen Rundofen an. Im Sommer 2020 erzählt er dem Reporter so stolz von der afghanischen Küche, als habe er die Gerichte selbst erfunden. Dieser Mann ist auf einer Mission.

Die Gäste kommen nicht nur aus Krefeld, die Afghanen unter ihnen nehmen sogar weitere Wege in Kauf, Mönchengladbach, Neuss, Düsseldorf, auch aus den Niederlanden. An guten Tagen waren es 50, sagt Habibi. „Ich habe geschafft, das Herz der Leute zu gewinnen.“ Aber da ist noch diese weltweite Pandemie. Er hat kaum das Restaurant eröffnet, da steht Corona vor der Tür. Im Frühjahr darf eine Weile keiner mehr im Restaurant essen, danach wird es wieder besser. Er sieht sich auf einem guten Weg. Im November 2020 der nächste Lockdown. Wieder dürfen die Leute nicht in seinem Restaurant essen, nur abholen und bestellen.

Doch wer afghanisches Essen bestellt, der will auch den kleinen Urlaub, die kleine Alltagsflucht. Der nimmt das nicht mit nach Hause wie Pizza oder Döner. Und vor allem kommt keiner aus einer anderen Stadt gefahren, um eingepacktes Essen abzuholen. Sayed liefert auch, aber mit einem normalen Rad, mit dem orangen Lieferando-Würfel auf dem Rücken, aber nur im Umkreis von zwei bis drei Kilometern. Einen Führerschein hat er nicht. Die Soße bleibt auf der Fahrt nicht, wo sie soll. Es dauert auch, das Gericht erst mal zu kochen. Die Leute müssen lange warten. So erklärt sich Habibi, dass er plötzlich kaum noch Geld einnimmt. Die Kosten bleiben. An Investitionen ist nicht zu denken.

Während das Restaurant große Verluste einfährt, muss der Auszubildende im Dezember seine Abschlussprüfung ablegen. Als Habibi in der Prüfung sitzt, spürt er Schmerzen in der Brust, die Luft bleibt ihm weg. Er sagt dem Prüfer, dass er nicht weiterschreiben könne, und fährt nach Hause, ohne zu wissen, was los ist. „Ich war wie tot.“

Der zweite Herzinfarkt folgt im Krankenwagen

Sein Hausarzt weiß es sofort: Herzinfarkt. Krankenwagen. Krankenhaus. Im Krankenhaus habe er seinen zweiten Herzinfarkt bekommen, berichtet Habibi. Die Ärzte setzen ihm mehrere Stents ein, um den Blutfluss zu gewährleisten.

Habibi sagt, es war nicht das Arbeitspensum, es war der Druck. Was ist, wenn er nicht nur mit dem Restaurant scheitert, sondern auch mit der Ausbildung? Was passiert mit seiner Zukunft, wenn er nicht besteht? Was mit seiner Familie, seiner Frau, seinem kleinen Sohn? Was ihn antrieb, zog ihn plötzlich runter. „Es war Minusminusminus... irgendwann platzt man. Ich bin geplatzt“, sagt er. In Afghanistan hat er Kinderpsychologie studiert, in Deutschland aber konnte er das nicht fortsetzen, weil es ihm nicht anerkannt wurde. Ohne bestandene Elektroniker-Prüfung würde ihm wieder mal keine Leistung bescheinigt werden. Er hat nicht mal eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Dabei hat er hier geheiratet, ist Vater geworden. „Du bist neu im Land, du hast nichts. Du musst immer aktiv sein. Ich möchte meinen Geschwistern und meinem Sohn zeigen, dass man etwas tun muss. Mein Versuch war ein bisschen viel.“

Es ist nicht das erste Mal, dass er dem Tod gerade noch entkommt. In Afghanistan wird er 2013 fast abgestochen, liegt lange im Krankenhaus. Danach weiß er, dass er in Lebensgefahr ist, und flieht. Er erzählt von einer Flucht, auf der er manchmal Blätter habe essen müssen. Auf der man Hunde auf ihn gehetzt habe. Mehrfach sei er im Gefängnis gewesen, bloß weil er Flüchtling gewesen sei. „Ich war wie ein Tier.“

Während er sich von den beiden Herzinfarkten erholt, bleibt das Restaurant geschlossen. Im Februar öffnet er es noch mal für ein paar Tage, dann macht er das „Kabul Haus“ dicht. Es lohnt sich einfach nicht. Den Ofen fürs Nan-Brot verkauft er übers Internet. Er sagt, ohne diesen Lockdown hätte das mit dem Restaurant geklappt. Doch noch bleibt ihm die Ausbildung bei der Rheinbahn. Wieder lernt er für die Abschlussprüfung und fällt durch. Ende des Jahres will er es noch mal versuchen.

Man sollte meinen, Habibi habe nun erst mal genug. Aber im Juli 2021 wirkt der 31-Jährige zwar geknickt, aber nicht gebrochen. Und: Er hat schon Pläne für ein neues Restaurant. Nicht einfach dasselbe noch mal. Nicht nur afghanische Gerichte, sondern auch uralte Rezepte aus der Türkei. Und das scharfe Chutney, das sie im „Kabul Haus“ zubereitet haben, mit Tomaten, Chili, Knoblauch, das mache in Europa keiner so wie sie, deshalb wolle er das nicht nur im Restaurant anbieten, sondern sogar in die Supermärkte bringen. Bloß fehlt ihm Geld für seine Pläne. Einen Kredit von der Bank kann er vergessen. Deshalb sucht er einen Investor für sein Restaurant.

Was wünscht man so jemandem wie Sayed Habibi? Klar, nur das Beste. Aber ist das die Karriere als Unternehmer, die ihm vorschwebt, oder doch lieber eine abgeschlossene Ausbildung und ein solides Leben als Facharbeiter? Besser für sein Herz, das Organ, wäre es. Die Unruhe ist er bis heute nicht losgeworden. „Wenn der Stress wieder so in mein Leben kommt, kann es sein, dass ich das nicht durchhalte. Dann Herzinfarkt und ich bin tot.“ Andererseits könnte es auch sein, dass ihm „solide“ auf Dauer nicht reicht. Er braucht ein Ziel, mit dem er sich und andere glücklich machen kann, sagt er. „Keine Zeit verschwenden.“

Im Juni hat sich Sayed Habibi in ein Auto gesetzt und als er wieder ausstieg, besaß er einen Führerschein. Über Jahre hatte er es versucht, war immer wieder durch die Theorie gefallen und mehrfach durch die praktische. Im vierten Anlauf bestanden, sagt er. „Ich bin ein bisschen glücklich.“ Andere mögen das belächeln, aber das ist endlich ein Dokument, das ihm eine Leistung bescheinigt. Im Gespräch holt er den Führerschein ungefragt raus und zeigt ihn her – da steht sein Name, da steht 22. Juni 2021. Aber wahrscheinlich will er das Ding einfach selbst noch mal sehen.

Investoren, die Kontakt zu Sayed Habibi aufnehmen wollen, können ihm eine Mail schreiben:
[email protected]

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