Analyse Acht Lehren aus der Europa-Wahl

Der grüne Erfolg als deutsches Phänomen, die Schwäche der FDP im Erfolg der europäischen Liberalen – und kein Rechtsruck: Was von der Wahl übrig bleibt.

Wahlplakate mit der SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, werden nach dem Wahlsonntag zu den Europawahlen weggefahren.

Wahlplakate mit der SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, werden nach dem Wahlsonntag zu den Europawahlen weggefahren.

Foto: dpa/Robert Michael

1. Der grüne Erfolg ist zuerst ein grüner Erfolg in Deutschland. Von der Umwelthilfe forcierte Diesel-Debatten, die Friday-for-Future-Bewegung und der nachhallende Rezo-Aufschlag sind Marksteine auf dem Weg für den Wahlerfolg der Grünen, deren ursprünglichster Markenkern der personifizierte Zeitgeist ist  - in Deutschland. Im EU-Ausland ist das weniger der Fall. In Schweden zum Beispiel, in dem Land, in dem die Klimaaktivistin Greta Thunberg zu Hause ist, haben die Grünen 3,8 Prozentpunkte verloren – und kommen nur noch auf 11,4 Prozent.

2. Wer jung ist, wählt grün, CDU und SPD werden fast nur noch von Älteren gewählt. Heißt: Das Ende der Volksparteien beginnen die Grünen als neue Volkspartei der Jugend. Denn bei den Wählern unter 30 sind die Grünen in Deutschland so stark wie Union, SPD und FDP zusammen. Selbst in der Altersklasse U-60 liegt die Partei noch vorne. Union und SPD sehen dagegen alt aus. Darauf künftig mit panischen Klimakonzepten zu reagieren und womöglich zu kopieren, könnte gleich der nächste Fehler sein.

3. Der Rechtsruck ist ausgeblieben. 173 von 751 Sitzen im Parlament werden von rechtspopulistischen und nationalistischen Fraktionen besetzt, das sind nur 18 Sitze mehr als zuvor. Von der apostrophierten Schicksalswahl mit 50:50-Charakter sind wir also weit entfernt. Was beweist, dass die Stimmen der Rechtspopulisten zwar stets laut sind, aber doch nicht in Breite gehört werden. Zwar sind etwa in Frankreich, Italien und Großbritannien rechtspopulistische Parteien stärkste Kräfte, das Vorhaben, zusammen das Parlament zu bestimmen, scheitert aber an schwachen Ergebnissen etwa in Deutschland, Österreich oder den Niederlanden.

4. Die FDP ist fast die einzige liberale Partei in Europa, die nicht kräftige Zugewinne verzeichnet hat. Denn im Europaparlament sind die Liberalen inzwischen die drittstärkste Kraft. In Deutschland allerdings profitieren die Liberalen nur wenig. Womöglich ist der Erfolg der europäischen Liberalen aber ein Fingerzeig für die FDP, wohin es gehen könnte, wenn man Fettnäpfchen ausließe, wie eine Friday-for-Future-Schülerschaft als Amateure zu bezeichnen. Europäische Trends als deutsche Zukunft – das funktioniert nämlich: Der langsame Untergang der Sozialisten kündigt sich in Europa seit Jahren an. Und setzt sich fort: Die Parteienfamilie S&D wird im Parlament 38 Sitze weniger haben, die Linken verlieren 14 Sitze. Kein politisches Lager wurde auch dieses Mal stärker abgestraft.

5. Die deutsche Groko schrumpft und schrumpft. Und schrumpft. Historische Minusrekorde machen das deutsche Regierungsbündnis extrem brüchig. Es wird nicht mehr gewollt.  Zusammen haben Union und SPD bei der Europawahl 44 Prozent erreicht, ein neues Bündnis wäre bei einer Bundestagswahl damit gar nicht mehr möglich. Nächster Halt für die Groko sind die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen am 1. September, dort drohen AfD-Wahlsiege und katastrophale eigene Ergebnisse. Möglich, dass danach die Groko in Berlin zerfällt, weil der Druck der SPD-Basis auf die verharrenden SPD-Regierungskräfte zu gewaltig ist. Explodieren dürfte er spätestens auf dem SPD-Parteitag im Dezember.

6. Satire wird in der Politik mehr und mehr salonfähig. Das hat in der Ukraine mit dem Schauspieler Wolodymyr Selenskyj  als neuen Ministerpräsidenten begonnen, bei der Europawahl haben allein in Deutschland 898 386 Menschen für die Partei von Ex-„Titanic“-Chefredakteur Martin Sonneborn gestimmt. Neben Sonneborn wird auch der Kabarettist Nico Semsrott im Parlament sitzen. Es gilt zunehmend das Wort: Wenn die Politik zur Satire wird, können Satiriker auch Politik machen.

7. Die Europa-Wahl war so spannend wie nie zuvor. Sie brachte ein so heterogenes Ergebnis hervor wie nie zuvor. Und sie genoss nie so viel Aufmerksamkeit. Seit der ersten Direktwahl zum Europaparlament 1979 war die Wahlbeteiligung bei Europa-Wahlen kontinuierlich gesunken – eben bis zu diesem Jahr. Rund 51 Prozent der mehr als 400 Millionen Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben, in Deutschland wählten 61,5 Prozent der Wahlberechtigten – und bewiesen damit, dass von der über Jahrzehnte viel zitierten Gleichgültigkeit gegenüber Europa keine Rede mehr sein kann.

8. Durch den Wahlerfolg von Grünen und Liberalen und der Tatsache, dass die proeuropäischen Parteien im Verhältnis fast gleich stark geblieben sind, obwohl EVP und Sozialisten schwächer wurden, wird es künftig mehr grüne und liberale Politik in Europa geben. Die CO2-Steuer wird dadurch realistisch. Aber: Die politische Zersplitterung sorgt auch dafür, dass man im komplizierten EU-Geflecht jetzt noch langsamer zu Entscheidungen kommen wird.

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