Krankheit Bergischer Kinderarzt appelliert: Corona als normales Virus einstufen

Interview | Remscheid · Dr. Thomas Fischbach spricht sich dafür aus, dass Kinder nicht beim ersten Niesen zu Hause bleiben sollen. Er wünscht sich einen anderen Umgang mit Covid in der jetzigen Phase.

 Dr. Thomas Fischbach, niedergelassener Kinder- und Jugendarzt und Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte.

Dr. Thomas Fischbach, niedergelassener Kinder- und Jugendarzt und Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte.

Foto: Christian Beier

Wie ist die aktuelle Lage in den Kinderarztpraxen?

Dr. Thomas Fischbach: Wir haben in den Praxen im Moment eine ganze Reihe von Infekten. Auch im Gespräch mit Kollegen wird deutlich, dass es mehr Erkrankungen sind als sonst um diese Jahreszeit. Früher nahmen die Infekte meist ab Mitte Oktober, nach den Herbstferien, zu. In diesem Jahr hat das allgemeine Infektionsgeschehen über den Sommer fast gar nicht abgenommen. Das sind derzeit Luftwegsinfekte aller Art, Magen-Darm-Erkrankungen, Hand-Fuß-Mund-Krankheit oder Mandelentzündungen.

Ist Corona noch ein großes Thema oder haben andere Viruserkrankungen so langsam Überhand?

Dr. Fischbach: Corona ist in den Kinder- und Jugendarzt-Praxen nicht mehr das Hauptthema, auch weil Kinder in der Regel nicht schwer an Covid-19 erkranken und Eltern deshalb nicht zum Arzt gehen. Es gibt eine gewisse Zahl von Kindern und Jugendlichen, die geimpft sind. Und es gibt eine noch größere Zahl, die Kontakt mit dem Virus hatten und Immunität entwickelt haben. Das wird sich weiter fortsetzen, auch wenn klar ist, dass der Immunitätsschutz nicht dauerhaft ist. Was aber auch nicht heißt, dass man Kinder jedes Jahr impfen soll.


Wie sehen Sie das neue Infektionsschutzgesetz von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach mit Blick auf die Kinder?

Dr. Fischbach: Das ist missraten, das kann man nicht anders nennen – aus vielerlei Hinsicht. Kita-Kinder und Schüler sollen bei leichtesten Symptomen eines Luftwegsinfekts, also einer „Schnupfennase“, eine Testung haben. Es ist aber nicht klar, wer die machen soll. Wenn die Tests in den Kitas und Schulen Leute machen, die es nicht können, dann sind die Ergebnisse entsprechend wenig aussagekräftig – wenn man zudem berücksichtigt, dass die Treffergenauigkeit der Tests ohnehin nicht so gut ist. Das ist auch eine Diskriminierung der Kinder gegenüber Erwachsenen, die müssen sich an ihrem Arbeitsplatz nämlich nicht testen. Natürlich haben Kinder, die krank sind, noch nie in die Kita oder Schule gehört. Die müssen zu Hause bleiben. Aber jetzt werden in den Kitas und Schulen Laien-Diagnosen gestellt, wenn ein Kind einmal niest. Und berufstätige Eltern bekommen dann regelmäßig Anrufe, dass sie ihr Kind abholen sollen. Das wird Familien belasten und ist unnötig, zumal man davon ausgehen kann, dass Erzieher und Lehrer ja geimpft sind. Es gab noch nie Bestrebungen, Infektionen der Luftwege so massiv zu kontrollieren. Wer krank ist, soll zu Hause bleiben, die anderen nicht.

Haben Sie Fälle von Long Covid auch bei Kindern?

Dr. Fischbach: Man kann nicht sagen, dass Long Covid gar kein Thema ist. Ich habe in der Praxis auch zwei Jugendliche gehabt, bei denen sich die Symptomatik ein halbes Jahr hingezogen hat. Solch lange Verläufe kennen wir auch von anderen Krankheiten wie dem Pfeifferschen Drüsenfieber. In Vergleich zu Erwachsen ist Long Covid bei Kindern aber durchaus sehr selten.

Spüren Sie nach über zwei Jahren Corona langfristige negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder?

Dr. Fischbach: Wir haben immer mehr Daten, die zeigen, dass es deutlich vermehrt psychosoziale Auffälligkeiten wie Angst und Depressivität gibt, auch aggressives Verhalten oder Rückzug. Auch Adipositas oder dysfunktionaler Medienkonsum sind wichtige Themen. Wir haben als Pädiater immer darauf hingewirkt, dass Eltern darauf achten, Mediennutzung in Quantität und Qualität anzupassen.

Dann kam Corona und das alles scheint nicht mehr wichtig zu sein. Wir erleben bei den Kindern Bildungsrückstände im Sprach- und Leseerwerb, vor allem bei unteren sozialen Schichten. Abzuwarten ist jetzt, wie lange es dauert, das durch die „Pakete“, die jetzt politisch geschnürt werden, auszugleichen. Im Vergleich zu den Niederlanden investieren wir in Deutschland leider nur ein Fünftel des Geldes für die Angebote „Aufholen nach Corona“. Kinder standen und stehen nach wie vor nicht auf der Agenda der Politik.

Was wäre Ihrer Meinung nach der richtige Weg?

Dr. Fischbach: Der Weg muss sein, in die Normalität zurückzufinden. Wenn die Fallzahlen wieder steigen und wir dann alle Infizierten von der Arbeit abziehen, bekommen wir ein Problem. Ich selbst bin vierfach geimpft und einmal genesen, mein Positivtest damals war ein Zufallsbefund, ich hatte keine Symptome, war aber neun Tage aus dem Verkehr gezogen, ohne krank zu sein. Vielleicht muss es zukünftig der Weg sein, dass Infizierte ohne Symptome mit FFP2-Maske weiterarbeiten und die vulnerablen Gruppen sich ebenfalls mit Maske schützen.

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