RWE-Kraftwerk: Die Tragödie von Neurath

Vor einem Jahr stürzten auf der größten Kraftwerksbaustelle Europas drei Menschen in den Tod. Die Schuldfrage ist immer noch nicht geklärt.

Neurath. Es war eines der schwersten Baustellen-Unglücke der vergangenen Jahre. Und es war ein Unglück, dessen schaurige Bilder im Gedächtnis haften bleiben: Um 16.30 Uhr stürzte am Nachmittag des 25. Oktober 2007 auf der Baustelle des RWE-Kraftwerks in Grevenbroich-Neurath eine mehr als 100 Tonnen schwere Stahlkonstruktion plötzlich in sich zusammen, riss drei Montagearbeiter in den Tod, verletzte fünf weitere Arbeiter schwer.

Das besonders Tragische: Die blutüberströmte Leiche eines Arbeiters hing an einem Sicherungsseil in 140 Meter Höhe, ein weiterer Arbeiter lag tot auf einer Arbeitsplattform auf 70 Meter Höhe, der Leichnam eines dritten Arbeiters war unter herabgestürzten Stahlträgern verschüttet. Zwei der Leichen konnten wegen Lebensgefahr für die Rettungskräfte erst am folgenden Tag geborgen werden, der Leichnam auf der Arbeitsplattform sogar erst zwei Tage später.

Wie es zu dem Unglück auf der etwa 50 Fußballfelder großen Baustelle hatte kommen können, war lange unklar: Erst jetzt scheint festzustehen, dass mutmaßlich ein Konstruktionsfehler die Ursache war. Bereits kurz nach dem Unfall hatte Klaus-Dieter Rennert, Vorstandsmitglied des Kraftwerk-Bauunternehmens Hitachi Power Europe, vier mögliche Ursachen für das Unglück genannt: "Ein Materialproblem, ein Fertigungsfehler, ein Konstruktionsfehler oder menschliches Versagen."

Fast ein Jahr hatten die von der Staatsanwaltschaft Mönchengladbach beauftragten Experten für ihre Arbeit benötigt, dabei unzählige "stumme Zeugen" untersucht - unter anderem Materialproben und Bruchstellen. Ein Teil der Baustelle, auf der täglich mehr als 1000 Menschen arbeiten, war dafür mehrere Monate abgesperrt worden.

Nun endlich liegen die Gutachten vor. Jetzt muss der ermittelnde Oberstaatsanwalt Lothar Schroeter die einen dicken Leitz-Ordner umfassenden Unterlagen prüfen - und entscheiden, ob und gegen wen möglicherweise ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung eröffnet werden muss.

Zum Inhalt der Gutachten will sich Schroeter noch nicht äußern: "Dazu kann ich erst etwas sagen, wenn unsere Prüfung abgeschlossen ist." Diese Prüfung allerdings bewege sich "an der unteren Grenze der Fahrlässigkeit".

Im Klartext bedeutet das: Es ist fraglich, ob es überhaupt ein strafrechtlich vorwerfbares Verschulden gibt. Hinzu kommt: Wegen der Einzigartigkeit der Baustelle gibt es vielfach keine DIN-Normen, anhand derer ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten festgemacht werden könnte. Eine juristische Einstufung des Unglücks als "Unfall" und die Einstellung des Ermittlungsverfahrens ist damit wahrscheinlich.

Allerdings ergaben die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft auch, dass es mitten im Unglück ein kleines Wunder gab. Es kommt nämlich in der Tat einem Wunder gleich, dass es nicht noch mehr Tote gegeben hatte - insbesondere jene fünf Arbeiter, deren Arbeitsbühne aus fast 100 Metern Höhe abgestürzt war.

Oberstaatsanwalt Schroeter: "Die Arbeitsplattform, auf der die Arbeiter standen, ist nicht im freien Fall abgestürzt, sondern auf Teilen der zusammenbrechenden Stahlkonstruktion gleichsam wie auf Jalousie-Lamellen gebremst hinab geglitten. Dadurch wurde fast die gesamte kinetische Energie des Sturzes abgefangen." Die Arbeiter überstanden den normalerweise tödlichen 100-Meter-Sturz - wenn auch mit schweren Verletzungen.

Durch das Unglück geriet der Kraftwerksbau aus dem Zeitplan. RWE-Sprecher Lothar Lambertz: "Ursprünglich war geplant, dass der erste Block des Kraftwerks in Neurath, der Block F, Mitte 2009 in Betrieb genommen werden sollte. Block G sollte dann in einem Abstand von sechs Monaten folgen."

Nun wird der Block G des Kraftwerks voraussichtlich erst Ende 2010 in Betrieb gehen, Block F dann Mitte 2011 folgen. Die direkten Schäden durch das Unglück bezifferte der RWE-Sprecher auf "sicherlich einen zweistelligen Millionenbetrag".

Eine besondere Veranstaltung zum morgigen Jahrestag des Unglücks ist seitens RWE nicht geplant.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort