Die Schattenseite der Erfolgsgeschichte

Das Grubenunglück in der Türkei hat politische Folgen

Kommentar von Peter Lausmann.

Kommentar von Peter Lausmann.

Foto: Nanninga, Bernd (bn)

Millionen Türken gilt Premierminister Recep Tayyip Erdogan als der Vater der modernen Türkei, als zweiter Atatürk. Seit er vor elf Jahren das Ruder übernahm, hat die Türkei einen Sprung nach vorne gemacht. Die Wachstumsraten sind beeindruckend, der Aufschwung kommt insbesondere bei den Menschen in den westlichen Städten sichtbar an. Die meisten beziehen das auf Erdogan persönlich.

Doch wo viel Licht ist, ist auch Schatten — wie Hunderte tödliche Arbeitsunfälle in den teils maroden Betrieben der Türkei in jedem Jahr. Im Bergbau ist die Quote rund fünfmal höher als in anderen Branchen. Das Unglück von Soma unterscheidet sich von vielen kleineren nur darin, dass es internationale Aufmerksamkeit erfährt. Und damit wird es auch für Erdogan gefährlich, weil es sein Bild von der fortschrittlichen Türkei beschädigt.

Zwar kann seine Regierungspartei AKP behaupten, moderne Gesetze zum Arbeitsschutz verabschiedet zu haben, doch sind diese immer nur so effizient wie ihre Kontrolleure. Zudem ist die AKP der alten Tradition von Korruption und abhängiger Justiz in der Türkei verhaftet. Elf Jahre Dominanz haben das eher verstärkt als gemildert. Entsprechend schnell kommt jetzt Kritik auf, wonach die AKP zugunsten des Werksbetreibers Prüfungen verhindert habe. Dass Erdogan das Unglück nun als „Alltag“ herunterspielt, verstärkt den Eindruck, dass vieles nicht mit rechten Dingen zugeht.

Es ist diese Selbstherrlichkeit, die die Erdogan-Gegner wieder auf die Straßen treibt. Zwar hatte ihm die jüngste Wahl einen großen Sieg beschert und Ruhe verschafft. Doch Erdogan weiß, dass die Proteste jederzeit wieder eskalieren können. Deshalb ist er zumindest proforma nach Soma geeilt und hat Aufklärung versprochen. Denn alles, was der AKP angelastet wird, landet durch den immensen Personenkult letztlich auch bei ihm.

Für Erdogan kann das gefährlich werden. Da er nicht erneut für das Amt des Premierministers kandidieren darf, will er sich in diesem Jahr zum Präsidenten wählen lassen, um an der Macht zu bleiben. Um das Tagesgeschäft dürfte es ihm dabei aber nicht mehr gehen. Erdogan geht es um Geschichte und darum, auf einer Stufe mit Atatürk zu stehen.

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