Joachim Gauck — der Bürgerpräsident

Der 73-Jährige ist ein Jahr nach seiner Wahl beliebt im Volk. Sein Thema hat er aber noch nicht gefunden.

Berlin. Oft sackt Joachim Gauck (73) nach einer Rede förmlich in sich zusammen. Dann senkt er den Kopf, schließt die Augen und atmet tief durch. Als ob er von seinem Amt noch immer überwältigt wird. Spricht man anschließend mit ihm, erlebt man wieder einen Präsidenten, der zwanglos und neugierig ist. Joachim Gauck hat zwei Seiten: eine nachdenkliche und eine unbekümmerte. Beide kommen im Land offenbar gut an. Am Montag ist er ein Jahr im Amt.

Die Herzen fliegen ihm bei seinen vielen Reisen durch die Bundesländer zu. Und Gauck ist in der Lage, das Eis schnell zu brechen. Er schüttelt Hände, strahlt mit den Menschen um die Wette. Unnahbar ist er nicht. Gaucks Vorteil: Viele Bürger empfinden es nach wie vor als angenehm, dass ein politisch unabhängiger Geist ins Schloss Bellevue eingezogen ist. „Mischt euch ein“, lautet seine Botschaft. Nach dem Rücktritt von Christian Wulff war das Amt lädiert. Gauck ist es gelungen ist, das Ansehen der Institution zu reparieren. Sein bisher wichtigster Verdienst.

Im ersten Jahr ereilte ihn des Öfteren ein Anruf aus dem Kanzleramt mit der Frage, wie er denn dieses oder jenes gemeint habe. Gauck hat lernen müssen, sich nicht allzu arglos mit Angela Merkel (CDU) und ihrer Politik zu beschäftigen. Wie in Israel, als er sich kritisch mit Merkels Begriff von der „deutschen Staatsräson“ beschäftigte und ihn so leichthin infrage stellte. Er musste zurück rudern. Seither weiß er, wie eng die politischen Spielräume sind, über die er als Präsident verfügt. Merkel und Gauck haben sich inzwischen ausgesprochen und ein Arbeitsverhältnis gefunden.

Mit Stolz wird im Präsidialamt darauf verwiesen, dass der Bundespräsident in den zurückliegenden zwölf Monaten mehr als 100 Reden, Ansprachen und Grußworte gehalten hat. Viele davon sind nicht in Erinnerung geblieben — eine aber auf jeden Fall: seine Europarede Ende Februar. Sie markiert einen Einschnitt: Gauck ist im Schloss Bellevue angekommen, der 73-Jährige traut sich jetzt Grundsätzliches zu. Es war keine große Ansprache, aber ein Anfang. Eine Botschaft, die für seine Präsidentschaft stehen könnte, hat Gauck allerdings noch nicht gefunden.

Was Gauck sagt, meint er auch. Das ist oft sein Problem. Er hat anfänglich viele Dinge zu schnell aufs Tableau gebracht: Er hat sich für eine flexiblere Gestaltung des Rentenalters ausgesprochen, bei der Energiewende vor einem „Übermaß an Subventionen“ gewarnt und eine neue Kontroverse darüber entfacht, ob der Islam vielleicht doch nicht zu Deutschland gehört. Sein größtes Fettnäpfchen war seine Einmischung in die Sexismus-Debatte: „Wenn so ein Tugendfuror herrscht, bin ich weniger moralisch, als man es von mir als ehemaligem Pfarrer vielleicht erwarten würde“, ließ er wissen. Das war wenig einfühlsam. Zu Beginn seiner Präsidentschaft ließ Gauck wissen: „Auch ich darf Anfängerfehler machen.“ Die Zeit ist jetzt vorbei.

Seine wichtigste Beraterin ist Lebensgefährtin Daniela Schadt (53). Sie achtet darauf, dass Gauck sich im Amt nicht zu sehr verändert. Im Schloss Bellevue wird erzählt, die Journalistin sage ihm genau, was zu tun sei. Dabei soll es auch mal kontrovers zur Sache gehen. Viele Jahre schrieb Schadt über Politik, da kann sie sich nun nicht ganz heraushalten. „Er hat das Mandat, nicht ich“, betont sie jedoch immer wieder.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort