Neuss: „Ich fühle mich als Europäer wohl“

Wahlkampf: Vor seinem Besuch in der Norfer Moschee sprach die WZ mit Grünen-Chef Cem Özdemir über Integration, Schule und Politik.

Neuss. Politik trifft auf muslime Gastfreundschaft: Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen, besuchte am Sonntag den Norfer Moschee-Verein und das Gotteshaus. Vor dem Wahlkampf-Auftritt sprach der Grünen-Chef im Gespräch mit der WZ über den Zustand seiner Partei, Schulpolitik und Integrationsförderung.

Özdemir: Das könnte etwas mit dem 9. Mai zu tun haben.

Özdemir: Ja. Als größte Bevölkerungsgruppe werden Türkischstämmige oft stellvertretend für alles, was mit Integration und ihrem Scheitern zu tun hat, in Verbindung gebracht. Natürlich gibt es Integrationsdefizite, aber wir sollten Türkisch nicht anders behandeln als andere Sprachen. Wir setzen uns ja auch für die deutsche Sprache in anderen Ländern ein. Die Beherrschung der deutschen Sprache ist zentral für die Lebenschancen hierzulande, aber Integration bedeutet nicht Einsprachigkeit. In einem zusammenwachsenden Europa schon gar nicht.

Özdemir: Wir müssen die frühkindliche Betreuung und Bildung verbessern und intensiv ausbauen, auch die der unter Dreijährigen. Das ist der Schlüssel zu mehr Chancengleichheit, aber auch zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dafür brauchen wir qualifiziertes Personal, eine bessere Fortbildung, aber auch Erzieher, die von der Fachhochschule kommen. Und wir müssen die Eltern überzeugen, diese Angebote dann auch zu nutzen. Der Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg ist in Deutschland bekanntermaßen extrem, dagegen muss man schon bei den Kleinsten angehen.

Özdemir: Die Unterrichtsqualität muss sich verbessern. Wir brauchen echte Ganztagsschulen, in denen die Kinder individueller gefördert werden und länger gemeinsam lernen. Dabei ist es egal, ob das Kind aus Neuss oder Kasachstan kommt. Wir brauchen Mensen, damit die Kinder ein vollwertiges Essen bekommen und naturtrüben Apfelsaft von der Streuobstwiese (lacht). Am Fehlen eines gesunden Mittagessens darf die Bildungsrepublik jedenfalls nicht scheitern.

Özdemir: Wenn es vor Ort gewünscht wird, kann eine dritte Gesamtschule sinnvoll sein. Wir plädieren für eine Gemeinschaftsschule, die nicht von Düsseldorf aus entschieden wird. Es soll auch Schul-Fusionen geben, wenn die Kommunen das wegen der demografischen Entwicklung wünschen. Wir wollen weder eine ideologische Herangehensweise noch Verbote für eine Schulentwicklung von unten.

Özdemir: Die Schulform ist überholt, die Eltern wollen sie nicht mehr. Die Kinder müssen länger gemeinsam und auch voneinander lernen und das am besten in einer echten Ganztagsschule, die bis zum Abitur geht. Aber eines muss klar sein: Längeres gemeinsames Lernen, kleinere Klassen und eine bessere Unterrichtsqualität gehören zusammen.

Özdemir: Das ist mir nicht unvertraut. In meinem Wahlkreis Stuttgart konnten wir kommunalpolitisch gut abschneiden. Wenn man gute Politik macht, kann man punkten.

Özdemir: Vor Ort muss man schauen, was passt. Wir wollen starke Grüne. Im Land haben wir mit der SPD und hier mit Fritz Behrens einen starken Partner. Wir reden uns die SPD nicht schön, aber wer die Wende, gerade in der Bildungspolitik will, der muss Grün wählen.

Özdemir: Mit der FDP ist das so wie mit der zweiten Bush-Amtszeit. Mittlerweile will sie keiner mehr gewählt haben. Die FDP hätte sich auch selbst einen Gefallen damit getan, wenn sie einen VHS-Kursus "Wie lerne ich regieren?" vor ihrem Eintritt in die Koalition belegt hätte. Aber Schwarz-Gelb war ja die Wunschkoalition von Rüttgers. Da kann er nicht so tun, als erkenne er den Partner nicht mehr.

Özdemir: Ja, ich finde, das ist ein erster wichtiger Schritt. Die Diskussion muss noch stärker betrieben werden und wachsen. Wir sind eine europaüberzeugte Partei. Und über ein Thema europaweit abzustimmen, wird Europa gut tun.

Özdemir: Auch der Mittelstand hat etwas davon, wenn wir qualifizierte Jugendliche in die Betriebe bekommen. Daran wollen wir arbeiten. Das Thema Altbausanierung ist ein weiterer Schwerpunkt. Alle profitieren davon: kleine Handwerksbetriebe, aber auch große Unternehmen. Das bringt bei den Arbeitsplätzen und energetisch Vorteile.

Özdemir: Ich fahre ein Auto mit niedrigem CO2-Wert. Aber es lässt sich immer noch etwas verbessern an der eigenen CO2-Bilanz, ich arbeite beständig daran. Wir haben zum Beispiel eine gute Wärme-Isolation, nutzen eine Solaranlage. Zu Hause in Kreuzberg achte ich darauf, Bioprodukte oder Produkte aus der Region zu kaufen.

Özdemir: Die Identität ist ja eher auf den Ort bezogen. Ich fühle mich als Europäer sehr wohl. In der Türkei habe ich Familie und Verwandtschaft, aber meine Loyalität gilt dem Land, in dem ich Parteivorsitzender bin.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort