Premiere im Schauspielhaus: Ego zwischen Tod und Tunte

Die Hauptfigur aus Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ wird im Schauspielhaus zur multiplen Persönlichkeit.

Düsseldorf. Erfolg macht hungrig. Nachdem sich die "Buddenbrooks"-Inszenierung zum Renner entwickelt hat, wurde dem aktuellen Spielplan des Schauspielhauses schnell ein Nachfolger implantiert. Da Romane nicht übers dramatische Knie zu brechen sind, griff man zu Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig".

Zu Beginn der Premiere am Mittwochabend steckt der Schriftsteller Gustav Aschenbach in einer Schaffenskrise. Er hockt an einem Tisch, Papier vor sich, Papierkorb neben sich, beschienen von einer einsamen Glühbirne. Um ihn herum stehen Jukebox und Vitrine (Bühne: Jan A. Schröder), Koffer und eine kleine Bühne als Zeichen des Urlaubs. Doch es bedarf eines "agent provocateur", der mit "Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm" Aschenbach zum Aufbruch bewegt.

Regisseur Christian Doll und Mitarbeiterin Christine Besier verdichten die Novelle auf ein Figurenpaar, das im Programmheft als "Der Eine" und "Der Andere" bezeichnet wird. Aschenbach (Wolfgang Reinbacher) als Standbein der Identität und ein Alter Ego (Daniel Graf) als Spielbein, das von der Tunte bis zum Tod alles sein kann. Der Andere fischt denn auch die verworfene Textstelle mit der Beschreibung Tadzios aus dem Papierkorb und verliest sie genüsslich. Dann sitzt der multiple Aschenbach plötzlich als schwules Paar am Strand ("Ist das herrlich!") und schaut sektschlürfend dem Treiben Tadzios zu, der klugerweise den ganzen Abend als erotische Phantasmagorie behauptet wird.

Der Andere schlüpft aber auch in die Rolle des Einflüsterers, der Texte souffliert oder bissig die Mannsche Ironie gegen die Hauptfigur wendet. Nicht unproblematisch: Die Aufspaltung bringt zwar die Dialektik der Hauptfigur zwischen Apollinisch und Dionysisch, Werk und Leben ins Bild, lässt aber Reinbachers Aschenbach bei aller Lebendigkeit des Spiels zu einer mitunter eindimensionalen, allzu jovialen Figur werden, während Daniel Graf den Identitätszampano mit mephistophelischen Zügen gibt.

Nach der Pause liegen Zettel herum, die auf eine mögliche Epidemie in Venedig hinweisen. Einen Moment verkehren sich die Rollen; der Andere steigert sich bei Kerzenschein und Albinoni-Adagio in weinerliche Tadzio-Emphase, bis Aschenbach gurgelnd um die Ecke kommt. Als dann aus den Zwiegesprächen der beiden das Liebesgeständnis zu Tadzio herausträufelt, ist es nur noch ein Schritt in den Untergang. Aschenbach wird von seinem Alter Ego mit Lippenstift, Rouge und Flitter zur Tunte aufgetakelt und stirbt unter dionysischen Traumzuckungen am Strand.

Manches an diesem Abend ist gelungen. Die Konzentration auf die Frage der Verdrängung in Zeiten sexueller Freizügigkeit verliert aber an Triftigkeit, wenn man die politische Dimension des Textes unterschlägt, nämlich die Vorwegnahme der hemmungslosen Entgrenzung in der Nazi-Zeit. Aber auch dieses Stück wird ein Erfolg, und der nächste Thomas Mann kommt bestimmt.

Entstehung Der Anblick des Knaben Wladyslaw Moes während Thomas Manns Venedigaufenthaltes 1911 gab den Anstoß zu der Novelle "Der Tod in Venedig". Mann nannte sie selbst eine "Tragödie einer Entwürdigung".

Geschichte Schriftsteller Gustav Aschenbach hat eine Schreibblockade. Daraufhin macht er sich auf zu einer Reise nach Venedig. Angekommen, widern ihn die Schwüle und der Verfall an; er will schon abreisen, als er dem 14-jährigen Tadzio begegnet. Er verliebt sich in ihn und stellt ihm nach. Als in Venedig die Cholera ausbricht, ignoriert Aschenbach die Gefahr und gibt sich dem Tod hin.

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