Sucht: Die vergessenen Kinder

Wenn Mutter oder Vater oder beide ein Alkohol- oder Drogenproblem haben, muss der Nachwuchs auf die Kindheit verzichten.

Mönchengladbach. Wenn der elfjährige Sven am Wochenende seinen Vater besucht, wackeln ihm vor dessen Wohnungstür schon die Knie. "Ist er besoffen oder nicht?" Das ist die Frage, um die sich bei ihm alles dreht. Denn Svens Vater ist Alkoholiker.

Die siebenjährige Jenny und ihre kleine Schwester Tatjana sind lieber auf der Straße als zu Hause. Die Erwachsenen in ihrer Familie haben alle ein Alkoholproblem. Daheim zu spielen ist kaum möglich. Jenny ist lernbehindert, weil ihre Mutter in der Schwangerschaft getrunken hat.

Sven, Jenny und Tatjana sind drei von deutschlandweit 2,7 Millionen Kindern, die in suchtkranken Familien aufwachsen. In jeder siebten Familie muss ein Kind mit der Alkohol- oder Drogensucht eines oder beider Elternteile fertig werden. Manuela Brülls, Krankenschwester im Café Pflaster an der Aachener Straße, hat den Alltag der drei mit der Sucht der Eltern kennengelernt.

Am Donnerstag erzählte sie ihr Schicksal exemplarisch auf einer Fachtagung von Drogenberatern, Sozialarbeitern, Psychiatern, Jugendamt, Gesundheitsamt und Kinderbetreuern an der Hochschule Niederrhein. "Kinder, die in suchtkranken Familien aufwachsen, müssen ihre Kindheit aufgeben. Sie sind allein in einer Welt von gebrochenen Erwachsenen", sagt Brülls. Weil Eltern mit ihrem Leben und ihrer Sucht überfordert sind, werden die Kinder vernachlässigt oder geschlagen. Die Fachleute nennen sie die "vergessenen Kinder".

Dass der Nachwuchs unter diesen Umständen zu Aggressionen, Depressionen, zu hyperaktivem Verhalten oder zu psychosomatischen Störungen neigt, erscheint logisch. "Außerdem ist das Risiko, dass diese Kinder selbst suchtkrank werden, sechsmal höher als üblich", sagt Michael Borg-Laufs, Professor für Sozialwesen an der Hochschule.

Neben dem körperlichen und geistigen Schaden sind die Kleinen mit den Erwachsenen-Problemen vor allem seelisch überlastet. Wer mit neun Jahren einkaufen, Essen machen und die Geschwister versorgen muss, weil die Mutter zu betrunken ist, hat keine Zeit mehr zum Kindsein.

Im Familienleben dreht sich alles nur noch um die Sucht. Nach außen darf aber nichts dringen. Drogensucht oder Alkoholismus sind in der Gesellschaft immer noch ein großes Tabu. Kinder schämen sich für ihre kranken Eltern und die schämen sich für sich selbst. "Auch süchtige Eltern wollen gute Eltern sein", sagt Barbara Baik von der Suchtberatung der Diakonie. Einen Zugang zu den Familien zu bekommen, ist für die Sozialarbeiter aus diesen Gründen oft sehr schwer.

Borg-Laufs stellt ein Belohnungssystem für wahrgenommene Beratungstermine in den Raum, den sogleich lautes Gemurmel und Raunen erfüllt. Doch beim Kinderschutzbund Mönchengladbach funktioniert es schon: Regelmäßiger Besuch der Babykurse wird mit Schwimmbad-Karten belohnt. "Das ist seitdem der Renner", sagt Heidrun Eßer vom Kinderschutzbund.

Sven hat mit seinem Vater eine große gemeinsame Leidenschaft: die Borussia. Als das Café Pflaster den beiden einen Besuch im Stadion ermöglichte, war der Elfjährige überglücklich. Er durfte einmal wieder Kind sein. Für 90 Minuten.

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