Mit Fantasy-Romanen in eine andere Welt

Seit Harry Potter stehen sagenhafte Bücher auch bei Erwachsenen hoch im Kurs.

Düsseldorf. Sie heißen Gandalf, Aragorn, Rincewind oder Hildegunst von Mythenmetz, und sie leben in Orten wie Mittelerde, Scheibenwelt oder Zamonien. Die Liste der Spielorte und Protagonisten der Fantastischen Literatur ist lang. Und oft wird dem Genre nachgesagt, es lade zur Weltflucht ein. Eine zutreffende Beschreibung oder nur ein Vorurteil?

Lektor Sascha Mamczak, beim Münchner Heyne-Verlag für die Bereiche Fantasy und Science-Fiction zuständig, ist sicher, die Gründe für den Fantasy-Boom zu kennen. "Der Harry-Potter-Effekt hat dazu geführt, dass sich auch Erwachsene nicht mehr davor scheuen, Bücher mit fantastischem Inhalt zu lesen." Zudem habe der unter Fantasy-Fans als Standardwerk geltende "Herr der Ringe" von Tolkien seit seiner technisch perfekten Verfilmung einen Nachfrageschub erlebt.

Als wirklich gefährlich betrachtet Mamczak das Eintauchen in andere Welten nicht. Im Gegenteil: Er sieht darin sogar eine Chance. "Das Faszinierende ist, dass man kurz aus unserer Alltagswelt heraustritt und erfährt: Alles könnte hier auch anders sein."

Die Lust auf Fantasy sei keine Flucht, sondern die Suche nach einem Alternativ-Bild der Welt, vermutet Mamczak. Oft gehe es in den Romanen zudem sehr weltlich zu. "Die unendliche Geschichte" von Michael Ende sage dem jungen Leser mehr über unsere Welt als über irgendeine ausgedachte, sagt der Heyne-Lektor.

Für den Psychologen Georg Franzen ist das Abtauchen in künstliche Literaturwelten ebenfalls nichts Negatives. "Eine solche Welt ist für den Leser eine stützende Erfahrung, die wir alle ab und zu brauchen und die unsere Kreativität und Phantasie bestärkt", sagt er. Erst bei einer Übertreibung bestehe die Gefahr des Abdriftens. "Beim vollständigen Verschmelzen mit dieser Welt gibt es Probleme. Dann bietet die Lektüre nicht nur eine stützende Funktion, sondern ist auch Flucht."

Gründe für solch einen Ausbruch aus der Realität bieten sich heute mehr denn je, ist der Psychologe überzeugt. "Der Arbeitsdruck hat in den vergangenen Jahren definitiv zugenommen. Vor allem die Angst, bei der Arbeit zu versagen. Das merke ich auch bei meinen Patienten. Aber auch eine schwere Kindheit oder eine plötzliche Arbeitslosigkeit können ein Anreiz für solch eine Flucht sein." Die unangenehme Auseinandersetzung mit der eigenen Situation werde somit vermieden.

Wer zu übertriebener Weltflucht neigt, kann sich laut Franzen vor allem durch eines schützen: klare Strukturen. "Zum Beispiel kann man sich selbst zur Auflage machen, nur einmal wöchentlich ein bestimmtes Spiel zu spielen", sagt der Psychologe. Ähnlich ist es mit der Literatur: "Wenn jemand merkt, dass er in extremem Ausmaß in die Buchwelt gezogen wird, sollte man den Schmöker auch mal eine Woche liegen lassen."

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