Swetlana Alexijewitsch erhält Friedenspreis

Frankfurt/Main (dpa) - In ihrer Dankesrede macht Swetlana Alexijewitsch das, was sie am besten kann. Die Autorin aus Weißrussland lässt die vielen Stimmen, die sie über Jahrzehnte hinweg eingefangen hat, am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche sprechen.

Da berichtet jemand von seiner schönen Tante Olja, die ihren eigenen Bruder denunziert und damit ins Lager gebracht hat. Da sind die Erzählungen der Frauen aus dem Zweiten Weltkrieg, die berichteten, dass junge SS-Soldaten vor der Erschießung jüdischer Kinder Bonbons in die Grube warfen.

Alexijewitsch ist ein „Mensch des Ohres“, wie sie sich bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels selbst nennt. Seit fast 40 Jahren sammelt sie akribisch Stimmen in der Sowjetunion - vor und nach deren Zerfall. Zu Recht wird die 65-Jährige, deren Bücher in ihrer Heimat verboten sind, als moralisches Gedächtnis des untergegangenen roten Imperiums bezeichnet. In ihren Büchern hat die stets bescheiden wirkende Autorin dafür gesorgt, dass das Leiden der einfachen Menschen nicht vergessen wird.

So haben wir erfahren, wie die Feuerwehrleute 1986 am brennenden Atomreaktor in Tschernobyl ohne jede Schutzkleidung in den sicheren Tod geschickt wurden. Wie junge sowjetische Soldaten - mit Wodka betrunken gemacht - zum Einsatz nach Afghanistan geflogen wurden. Zurück kamen sie in Zinksärgen - „Zinkjungen“ hat Alexijewitsch 1989 eines ihrer wichtigsten Bücher genannt. Die Särge von Gefallenen wurden auch dafür benutzt, um Kriegsandenken - aufgefädelte getrocknete Menschenohren, Pelze oder Drogen - in die Heimat zu schmuggeln. „Stimmen, Stimmen. Sie sind in mir, verfolgen mich“, wiederholt sie mehrfach in ihrer beeindruckenden Rede, die sie auf Russisch hält. „Ich gehe zu denen, die keine Stimme haben. Ich höre ihnen zu, höre sie an, belausche sie. Die Straße ist für mich ein Chor, eine Sinfonie“, sagt sie ohne falsches Pathos.

Als „Archäologin der kommunistischen Lebenswelt“ würdigt ihr Laudator, der Historiker Karl Schlögel, die 65-Jährige. „Beharrlich, furchtlos, ergreifend.“ In ihrem gerade auf Deutsch veröffentlichten Werk („Secondhand-Zeit“) hat die Tochter eines Dorfschullehrers all die Enttäuschungen der Menschen nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums gesammelt.

Nach mehr als zehn Jahren im Ausland lebt die 65-Jährige heute wieder in Minsk. Alexijewitsch, die in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung wohnt, wird vom autoritären Regime unter Alexander Lukaschenko konsequent totgeschwiegen. Über Russland werden ihre Bücher, die Millionenauflagen erzielt haben, eingeschmuggelt.

„Manchmal frage ich mich, wieso ich immer wieder in die Hölle hinabgestiegen bin“, fragt sie sich. Und gibt sich gleich selbst die Antwort: „Um den Menschen zu finden.“ Alexijewitsch gibt sich keinen Illusionen hin, was politische Veränderungen angeht. „Wir hatten gedacht, der Kommunismus sei tot, aber diese Krankheit ist chronisch“, sagt sie in ihrer Rede, in der sie sich jeder politischer Forderung enthält.

Der Kommunismus habe in seiner 70-jährigen Herrschaft den Menschen ummodeln wollen. „Es ist vielleicht das einzige, was gelungen ist“, sagt sie bitter. Auch ihr vor kurzem gestorbener Vater sei bis zu seinem Tod Kommunist geblieben.

Doch sie ist keine Zynikerin. „Ich liebe unsere Menschen, unsere Geschichte liebe ich aber nicht“, hat sie bereits am Freitag auf der Buchmesse gesagt. Auch in der Paulskirche klingt ein bisschen Hoffnung an. Sie erinnert an die tausende jungen Menschen, die Ende 2010 in Weißrussland aus Protest gegen die gefälschten Wahlen auf die Straße gegangen sind.

Den verdienten großen Applaus erhält Alexijewitsch erst am Schluss. Für die 1000 geladenen Gäste in der Paulskirche - darunter Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) - gab es keine Simultanübersetzung.

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