Funke öffnet die Spiegelwelt

Die Autorin folgt einem Jungen in die Welt herzloser Zwerge.

Düsseldorf. Der Vater verschwunden, die Mutter krank, die Welt der Erwachsenen ein einziges großes Rätsel. Wohin soll man nur gehen, wenn einem das Leben über den Kopf wächst? Teenager Jacob flüchtet ratlos in eine andere Welt. Weil er in einem Roman von Cornelia Funke sein Leben meistert, liegt Jacobs andere Welt hinter einem Spiegel - und die versteinert das Herz seines kleinen Bruders Will, der ihm nach dem Tod der Mutter heimlich nachgeht.

Die 51-Jährige kann sicher sein, dass die Fans ihren Roman "Reckless" (Verwegen) ungeduldig erwarten. Denn schon ihre "Tintenwelt"-Trilogie verkaufte sich weltweit millionenfach. "Reckless" erscheint heute in Deutschland, England, Spanien, Mexiko, Russland, Frankreich, Norwegen und den USA und soll am Ende drei Bände umfassen.

Im Spiegelland erwartet den Leser eine seltsam vertraute Welt: Es herrscht Krieg, es gibt Intrigen, Mord und Totschlag, Eitelkeit und Gier - nur in anderem Gewand. Die Feen üben dunkle Macht aus, die Zwerge machen opportunistische Geschäfte, die Goyl sind ein Volk aus Stein, das entsprechend herzlos handelt, und die Kaiserin lässt alle Zaubergegenstände konfiszieren.

Die gebürtige Westfälin wird gern als die deutsche J. K. Rowling bezeichnet, und in ihrer Art, die Regeln unserer Welt in einem fantastischen Reich zu spiegeln, gleichen sich die Autorinnen durchaus. Doch Funkes Fantasy-Reiche sind nicht so ironisch und spannungsreich mit unserer Welt verknüpft wie bei "Harry Potter".

Funkes Sprache ist von fast lyrischer Schönheit, die langsames Lesen verlangt. Sie lässt ihre Figuren mit dem Leben hadern, auf der Spiegelwelt lastet etwas Drohendes. Mit Grausamkeiten ist sie nicht zimperlich, lässt Kinderfresserinnen antreten und reichlich Blut fließen - deshalb ist das Buch erst ab 13 Jahren freigegeben. Doch einige Passagen lassen schmunzeln wie jene, als ein Zwerg über fehlendes Licht meckert, es sei "dunkler als im Hintern eines Riesen".

Es dauert, bis der Leser sich in der Spiegelwelt zurechtfindet. Funke lässt ihn ohne Erklärung Jacob folgen, der mit einem Fuchs, einem Zwerg und Wills Freundin Clara durchs Land reist, um seinen Bruder vor dem Versteinern zu bewahren. Nach und nach begreift man, dass Jacob hier einst erfolgreicher Jäger von Zaubergegenständen aus den Grimmschen Märchen war: das Tischleindeckdich, Rapunzels Haar, der Goldene Ball des Froschkönigs. Doch die Zusammenhänge bleiben kompliziert, und so hofft man, dass dem zweiten Band wie der Tintenwelt-Trilogie ein "Wer ist wer" anhängt.

Man ahnt, dass sich die vielen angedeuteten Geschichten in den nächsten beiden Bänden phantastisch ausbreiten werden, und man weiß, dass Cornelia Funkes Spiegelwelt größer wird als ein Märchenreich. Denn sie wird den großen Fragen nach Liebe und Tod nicht aus dem Weg gehen.

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