Analyse Die Spaltung der Gesellschaft: Das Eis wird dünn

Düsseldorf · Zwischen Grönemeyer und Höcke, Kompromiss und Starrsinn, Demokratie und konsequenter Verdrossenheit: Die Gesellschaft scheint gespaltener zu sein als je zuvor. Eine Bestandsaufnahme mit Zeugen.

 Dünnes Eis, umgeben von viel Wasser.

Dünnes Eis, umgeben von viel Wasser.

Foto: obs/Thomas Wasilewski

Als am vergangenen Wochenende der Politiker Björn Höcke ein Interview mit einem ZDF-Reporter abgebrochen hat, weil er Fragen und Art der Gesprächsführung „nicht redlich“ fand, war der gesellschaftliche Widerhall überbordend und in wenigen Minuten organisiert. Die Palette reichte vom Vorwurf des kalkulierten Abbruchs durch den AfD-Mann bis hin zum kalkulierten Abbruch durch das ZDF, was widersprüchlich ist, in der Schlagzeile eines Kommentars des Journalisten Ulrich Reitz bei „Focus“ zum Thema aber gut abgedeckt wird: „Höcke und ZDF landen beide Punktsiege – großer Verlierer ist die Demokratie“ heißt es in der Überschrift, die suggeriert, dass die beiden Gesprächspartner im Kriegszustand aufeinander getroffen sind, um am Ende ihren Anhängern den jeweiligen Skalp präsentieren zu können. In dieser Aufstellung scheint das grundsätzliche Problem zu liegen.

Wie mustergültig diese als Inhalte-Diskussion angelegte Unterhaltung auf die Ebene der Ideologie mit Konfrontation und Zusammenbruch gehoben wurde, ist nicht mehr sonderlich erstaunlich. In dieser Republik verlaufen inzwischen so tausende Prozesse täglich, und die Alternativlosigkeit, mit der sie ideologisch aufeinander knallen, erschrickt nur noch jene, die sich dieser offen geführten Auseinandersetzung der Gesellschaft noch oft durch Ignoranz entziehen. Der Fall Herbert Grönemeyer und die Interpretationen seiner „Kein Millimeter nach rechts“-Aufrufe während seiner Konzerte lassen grüßen. Die einen verglichen ihn hernach mit dem NS-Hetzer Goebbels, andere verehren ihn „als Deutschlands konsequentesten Kämpfer gegen rechte Tendenzen“.

Walter-Borjans zitiert Rau: Der Markt ist wertblind

Das Muster jener Auseinandersetzungen beschreibt Reitz in jenem Kommentar passend, wenn er der „feindlichen Gegenüberstellung“ dieser Haltungen jede Fähigkeit zum Kompromiss abspricht: „Dann werden keine versöhnenden Brücken gebaut, der Diskurs erlahmt, schlimmer noch: die Leute liegen sich in ihren jeweiligen Schützengräben gegenüber, die Flinten geladen und die Hirne voller Selbstgewissheit. Es sind schmerzhafte Momente, solche, in denen man sogar Angst bekommen kann um die Demokratie.“

Die sogenannte Spaltung einer Gesellschaft kann zwischen Arm und Reich verlaufen, zwischen rechts und links, meist geht diesen Polen aber eine grundlegende Beobachtung voraus, die der aktuelle SPD-Vorsitzkandidat und ehemalige NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans gegenüber dieser Zeitung geäußert hat: „Ich glaube, dass der tiefer werdende Graben zwischen Arm und Reich die Folge einer anderen, noch tiefer gehenden Spaltung unserer Gesellschaft ist: nämlich in diejenigen, die glauben, man könne das Erreichte am besten mit Rücksichtslosigkeit und Egoismus bewahren und ausbauen, und in diejenigen, die wissen, dass eine auseinander fallende Gemeinschaft am Ende auch denen schadet, die gemeint haben, allein zurecht zu kommen“, sagt er und führt mit Blick auf eine seiner Ansicht nach zunehmend marktgetriebene und unregulierte, so auch wenig achtsame Gesellschaft weiter aus: „Die mit der Globalisierung verbundene Anonymität hat das Rücksichtslose und Egoistische in den Wirtschaftsbeziehungen immer weiter verstärkt. Mein alter Lehrmeister Johannes Rau hat dazu gesagt: Der Markt ist wertblind. Wenn man ihn sich selbst überlässt, kennen die Menschen von allem nur noch den Preis und von nichts mehr den Wert. Eine sehr weitsichtige Feststellung.“

Inwiefern es gelingen kann, eine demokratische Wertevorstellung bei jenen wiederzuerlangen, denen die Demokratie gar nichts mehr wert zu sein scheint, hat der Schriftsteller Ferdinand von Schirach gerade in einer Talkshow des ZDF abgewogen. Nach von Schirachs Darstellung gebe es in fast allen westlichen Demokratien inzwischen „15 bis 25 Prozent“ an Menschen, „die schlicht nicht mehr an die Demokratie glauben“, meist aus einer grundsätzlichen Anschauung heraus: Das „Komplizierte, Langwierige, die ewigen Diskussionen und komplexen Debatten, all das, was Demokratie eigentlich ausmacht, das wird als Schwäche der Demokratie angesehen“, sagt von Schirach. „Die Leute wollen jemanden, der auf den Tisch haut und mal durchregiert, der einfach mal sagt: Jetzt müssen wir es so machen.“ Das, so von Schirach, sei das „eigentlich Gefährliche“. Man habe verlernt, den Rechtsstaat und die Komplexität von Demokratie und die Güte von Debatten überhaupt noch wahrzunehmen. Als Beispiel führt der Jurist und Schriftsteller die Debatten über das „dritte Geschlecht“ an, die die Lebenswirklichkeit der meisten nicht im Ansatz berühre oder gar abbilde und deswegen als Katalysator für Unzufriedenheit diene, die Gesellschaft aber im demokratischen Prozess doch weiterbringe. Von Schirach: „Das wird aber gering geschätzt.“

Wie sehr die Angst vor der Spaltung der Gesellschaft derzeit ein Thema in der Gesellschaft ist, verdeutlicht eine Umfrage von Infratest dimap für den ARD-DeutschlandTrend von vor wenigen Tagen. Demnach haben 83 Prozent der 1014 Befragten „sehr große beziehungsweise große Sorgen, dass die gesellschaftlichen Gruppen weiter auseinander driften“ – im Vergleich zum Monat zuvor ist das eine Zunahme um acht Prozentpunkte. Interessant auch: Anhänger aller im Bundestag vertretenen Parteien teilen diese Befürchtung mit deutlicher Mehrheit: Die grassierende Angst vor einer Spaltungsbewegung ist also im Gros eine gesamtgesellschaftliche Angst, die aber überhaupt keine bindende Wirkung hat und in der direkten Konfrontation der Einzelteile augenscheinlich in die gleichen zerfällt.

Die Sozialen Medien als Katalysator für Spaltung

Nur wenige zweifeln daran, dass Sozialen Medien großen Einfluss auf die interne Feindseligkeit einer zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaft haben. Eine Gesellschaft, die sich in diesem Raum im Vergleich zu früheren Jahrzehnten vervielfacht antrifft und dort konfrontativ und kompromisslos auseinandersetzt. Zugleich passiert ein zweites: Der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Schweiger hat gegenüber dem „Domradio“ der Gesellschaft attestiert, es nicht mehr zu schaffen, ihre Ausdifferenzierung auszuhalten. „Unsere Gesellschaft war noch nie einheitlich. Wir hatten früher aber Massenmedien, bei denen sich fast alle informierten – alle sahen Nachrichten im Fernsehen. Durch das Internet ändert sich die Situation. Jede Gruppe hat heute ein eigenes maßgeschneidertes Nachrichtenangebot, das mehr oder weniger nach journalistischen Maßstäben arbeitet. Viele dieser Angebote sind ‚alternative Medien‘, deren Autoren es mit den Fakten nicht so eng sehen, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Sie überspitzen. Diese Angebote verstärken die gesellschaftliche Spaltung weiter.“

Dass die gesellschaftlich oft aggressive Kleinteiligkeit sich auch immer öfter innerhalb der Parteien abzeichnet, gehört zu dieser Gesellschaftsdiagnose. Die CDU etwa kämpft als größte sogenannte Volkspartei mit immer mehr internen Gruppierungen wie der „WerteUnion“ oder oder „Union der Mitte“, zudem vielen Kreisen, die Zeichen von Ausdifferenzierung und zugleich dem Bemühen sind, die Unterschiedlichkeit der Parteigänger in einer Partei noch irgendwie auszuhalten.

Das ist wesentlich das Thema des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU), der kürzlich beim Journalisten Gabor Steingart in dessen Podcast auf die Frage antwortete, inwieweit er sich mit einem einzigen Wort beschreiben könne: „Integrieren – nicht im Migrationssinne, sondern integrieren unterschiedlichen Denkens in einer Gesellschaft, was auch zulässt, dass man eine komplett andere Meinung hat, aber das am Ende doch zu einem Konsens kommt.“

Diese Fähigkeit des Konsens oder auch des Kompromisses – ein Uranspruch der Demokratie – geht zunehmend verloren: Zuletzt hat das über viele Monate die große Koalition in Berlin eindrücklich bewiesen, als sich die politisch aneinander geketteten Kontrahenten über Streit definierten und nicht über Kompromissfähigkeit – und die Demokratiekrise auf diese Weise in noch nicht abschätzbarem Ausmaß befeuerten.

Dass Politik die Aufgabe hat, diese Spaltung, deren soziale Komponente Ergebnis wie auch Beginn ist, aufzuhalten und zu regulieren, davon ist Walter-Borjans überzeugt. „Politik hat die Pflicht, Farbe zu bekennen und Regulierung vorzuschlagen. Wenn die Menschen sie dann nicht wollen, können sie das demokratisch durch Abwahl entscheiden. Mich ärgern die, die sich hinter ,den Märkten’ verstecken“, sagt der SPD-Politiker. Politik sei dafür da, „den Markt als ein gutes Instrument auf das Gemeinwohl zu verpflichten. Bei allen Interessen Einzelner, die dagegen stehen und mit allen Fehlern, die Menschen dabei machen“.

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