Sechs Operationen retten einen Finger

Mehr als 1000 Patienten kommen jährlich in die Plastische Chirurgie an Helios.

Wuppertal. Es grenzt an ein kleines Wunder, dass Kevin Ebers den Ringfinger seiner linken Hand wieder ganz normal bewegen kann und dabei kaum Schmerzen spürt. Vor einem Jahr sah es ganz danach aus, als würde der 15-Jährige seinen Finger verlieren.

Als der Schüler am 3. Juni 2007 beim Spielen über den Nachbarzaun kletterte, blieb er mit seinem Ring am Zaun hängen, der Finger wurde dabei skelletiert, der gesamte Weichteilmantel mit Gefäßen, Nerven und Sehnen abgerissen. "Ich sah nur Knochen. Die Weichteile hingen an einem Nerv lose in der Handfläche", erinnert sich Kevins Mutter Edith Ebers.

In sechs Operationen wurde der Finger wieder hergestellt, die Gefäße unter dem Mikroskop zusammengenäht. Dabei hatte Kevin Ebers Glück im Unglück: Er verlor nur das Endglied seines Fingers. "Die meisten verlieren ihren Finger in solchen Fällen komplett, dann hätten wir auch einen Teil des Mittelgliedknochens abnehmen müssen", erklärt Dr. Susanne Edelhoff von der Fachabteilung Plastische und Handchirurgie am Helios-Klinikum in Barmen.

Für die diffizile Wiederherstellung nahmen die Ärzte Gewebe vom anderen Finger ab, Nerven, Arterien und Sehnen wurden Schritt für Schritt wieder angenäht. "Ein sauberer Schnitt wäre deutlich unkomplizierter gewesen", sagt Edelhoff. "Der Ring hat die Weichteile zerquetscht, das war problematisch." Auch Blutegel taten kurzzeitig ihren Dienst: Sie wurden fünf Tage lang an den Finger angesetzt und sorgten für eine gute Durchblutung.

Heute muss Kevin nur noch sporadisch einen Stützhandschuh tragen und sich deshalb gelegentlich Sprüche von seinen Mitschülern anhören, sonst ist fast alles wieder beim Alten: "Für mich ist das ganz normal. Auch Sport ist kein Problem", sagt er.

Kevin Ebers ist kein Einzelfall. Mehr als 1000 Patienten jährlich suchen in der Fachabteilung für Plastische und Handchirurgie im Helios-Krankenhaus Hilfe. Viele der Patienten, die bei Klinikdirektor Prof. Dr. Giulio Ingianni und seinem Team landen, sind Notfälle. Bei der Frage nach kuriosen Fällen zucken die Oberärzte Dr. Christian Döbler und Dr. Susanne Edelhoff zunächst mit den Schultern - was wohl eine Frage der Perspektive ist. Denn was für die Mediziner zum täglichen Brot geworden ist, mag dem unbedarften Otto Normalverbraucher gerne mal den Appetit auf ebensolches verderben.

Verletzungen an der Hand seien besonders häufig, sagen die Mediziner, die Szenarien ähnlich. Klassiker sind wohl die berühmten fünf Bier für die Männer vom Sägewerk, dem Wirt angezeigt mit zwei Fingern. "Tatsächlich haben wir viele Patienten, die am Arbeitsplatz mit Sägen oder Walzen umgehen müssen", sagt Susanne Edelhoff. Als Klassiker habe sich auch der nächtliche Sprung über den Schwimmbad-Zaun erwiesen, bei dem man schnell - beispielsweise mit einem Ring - am Metall hängen bleibe, ganz ähnlich wie bei Kevin Ebers.

Ebenfalls gefährlich: Müll nachdrücken im Abfalleimer - da lauert manche scharfe Konservendose. Auch ein gebrochenes Aquarium habe seinem Besitzer einmal arg zugesetzt, erinnert sich Döbler. "Dadurch entstehende Entzündungen können besonders gefährlich sein".

Ist das Kind erst einmal in den Brunnen - oder vom Schwimmbad-Zaun - gefallen ist, stellt sich immer die Frage, was medizinisch zu retten ist. Das könne pauschal nicht beantwortet werden, sagt Döbler: "Das muss man vor der OP ganz ausführlich mit dem Patienten besprechen, schließlich kann eine längere Arbeitsunfähigkeit nach einer Fingerreplantation auch den Job kosten".

Entscheidend für die Heilung sei stets die Durchblutung. "Letztendlich muss genügend Blut in den angenähten Finger fliessen und genauso viel Blut abfliessen können. Funktioniert einer der beiden Mechanismen nicht, muss sofort gehandelt werden", sagt Döbler. Die Grundlagen für den Behandlungserfolg werden - da sind sich die beiden Ärzte einig - bereits am Unfallort gelegt. Wichtig ist die Verpackung für den Transport. Ein trockener, steriler Beutel, untergebracht in einer zweiten, mit Eiswasser gefüllten Tüte sei optimal, sagt Edelhoff.

Dazu kommt die goldene und sehr pragmatische Regel: "Immer alles mitbringen." So hat die Ärztin schon mal einen Polizisten zur Unfallstelle zurückgeschickt, um eine abgetrennte Fingerkuppe zu suchen. Mit Erfolg: Das fehlende Stück lag vor Ort und konnte wieder angenäht werden. Erfolgreiche Wiederherstellungen sind für die Fachärzte naturgemäß die schönsten Erlebnisse.

Döbler erinnert sich an einen jungen Profi-Klarinettisten, der sich in einer Ski-Halle den Kleinfinger abgetrennt hat. "Die Operation dauerte von Mitternacht bis vier Uhr morgens. Drei Monate nach dem Eingriff hat mich der Patient zum Konzert eingeladen. Dass die Beweglichkeit so gut wurde, lag nicht zuletzt an den Krankengymnastinnen, die den Patienten mehr als 100 Mal quälten".

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