Juden schreiben an Ulrich Föhse

Die Begegnungsstätte Alte Synagoge veröffentlicht am 12. April eine Auswahl an Briefen von Wuppertaler Juden an den Lehrer und Politiker in einem Buch. Auszüge daraus sind vorab in der WZ zu lesen.

Juden schreiben an Ulrich Föhse
Foto: Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge

Sehr geehrter Herr Föhse,

ich danke Ihnen für Ihre Anfrage vom 28. April dieses Jahres. Um ihr völlig gerecht zu werden, müsste ich ein Buch schreiben, wozu ich keine Zeit habe, da ich in der Tat ein eigenes Buch in Arbeit habe, nämlich über meine Sekretärstätigkeit bei Thomas Mann von 1943 bis 1952, während er in Los Angeles lebte. Ich muss mich also darauf beschränken, Ihnen nur kurz einige Anhaltspunkte zu geben. Näheres über meine Jugenderfahrungen mit Antisemitismus in Elberfeld habe ich in meinem Manuskript niedergelegt, was Ihnen vielleicht eines Tages vor Augen kommen wird.

Die Vorfahren meines Vaters, ein gebürtiger Elberfelder, lebten schon seit ca. 200 Jahren im Rheinland. Meine Mutter stammte aus Prag, wo auch ich (und meine ältere Schwester) während des Ersten Weltkrieges geboren wurde, indessen mein Vater als Kriminalkommissar bei der Gegenspionage in Brüssel tätig war. Der Vater meines Vaters, Jakob Goldschmidt, hatte ein Herrenfutterstoff-en-gros-Geschäft in Elberfeld, das sein Sohn Leo übernahm. Mein Vater war der einzige Akademiker unter seinen Geschwistern (sechs im ganzen).

Wir hatten jüdischen Religionsunterricht in der Schule, und der Rabbiner Dr. Norden kam zweimal wöchentlich in die Schule zu diesem Zweck. Ich bewunderte ihn sehr. Nach ihm kam ein jüngerer Rabbiner, an dessen Namen ich mich im Moment nicht besinnen kann. An den hohen jüdischen Feiertagen besuchten wir Kinder immer die Synagoge, und ich sang eine Zeit lang im Synagogenchor. Später gehörte ich dem Jüdischen Tennisclub (Blau-Weiß?) an, das war nach Hitler, als man in einem wahren Ghetto zu leben gezwungen war.

Es ginge zu weit, hier im Einzelnen über antisemitische Erfahrungen zu schreiben. Sie fingen nicht erst mit Hitler an, sondern es gab schon vorher Schülerinnen, die nicht mit Juden verkehren durften (z.B. die von Baums, ein gekaufter Adel), Briefträger, die antisemitische Bemerkungen machten, die man aber noch glaubte, „aufklären“ und belehren zu können, usw. Nach Hitler war das Denunzieren ein beliebter Sport (Mitbewohner unseres Mietshauses zeigten meinen Vater an, er mache obszöne Fotographien in seinem Keller!), eine Mitschülerin sah mich mit meinem „arischen“ Freund und rief sofort die Polizei an, usw. Bis auf einen wunderbaren Lehrer, Dr. Henssen, waren die meisten Lehrer (von denen manche schon pensioniert gewesen waren, aber nun als alte Parteibonzen wieder angestellt wurden) antisemitisch und verfolgungsgierig, was mich veranlasste, in der Obersekunda abzugehen. Zum Abitur und der Universität wurde man als Jude, wie Sie wissen, sowieso nicht zugelassen.

Mein Vater war der Präsident des Zentral-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens für Rheinland und Westfalen. Ich leitete kurz eine Gruppe junger jüdischer Kinder, deren imitierter Militarismus mich aber so abstieß, dass ich zurücktrat. (Sie kopierten wohl die Hitler-Jugend.) Im Jahre 1936 arbeitete ich für die jüdische Winterhilfe in Elberfeld, da die Juden von aller Wohlfahrt ausgeschlossen waren und ihre eigene Organisation erweitert hatten. So kam ich in Berührung mit einigen armen Familien, denen ich Nahrungsmittel lieferte.

Von 1936 an betrieb ich meine Emigration, erst für ein Jahr lang nach Brasilien, das aber dann seine Grenzen verschloss, und danach nach den U.S.A., wohin es mir endlich Ende 1937 gelang, auszuwandern. Ich musste zu diesem Zweck einen Freund, mit dem ich sowieso auswandern wollte, heiraten, um auf die deutsche Quote zu fallen.

Nach der Kristallnacht schickten wir von Amerika aus meinen Eltern ein Affidavit, mit Hilfe dessen sie nach England gelassen wurden, wo mein Vater, interniert als „enemy alien“, an Meningitis starb, kurz bevor er freigelassen werden sollte.

Ein Bruder meines Vaters, Paul, ist verschollen und wahrscheinlich umgebracht worden. Eine Schwester meiner Mutter wurde in Theresienstadt ermordet. Eine gute Freundin meiner Mutter, Erna Cahn aus Barmen, starb in Auschwitz. Da waren andere, aber ich kann sie nicht alle aufzählen.

Ich bin im Besitze des Buches „Auschwitz begann in Wuppertal“ von Kurt Schnöring, das Ihnen sicher bekannt ist. Ich nehme an, das Ihrige wird sich an dieses anschließen und es vervollkommnen.

Ich wünsche Ihnen zu diesem lobenswerten Unternehmen jeden erdenklichen Erfolg und sende Ihnen meine besten Wünsche.

Ihre Hilde Reach

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