Jahrestag der Befreiung Holocaust-Gedenken: Zeitzeugin bewegt im NRW-Landtag

Eine Puppe, ein Stolperstein, eine Gedenktafel oder der berührende Bericht einer Überlebenden – die Erinnerung an die Ermordung von Millionen Juden durch die Nationalsozialisten wird auf vielfältige Weise wachgehalten. So war das Holocaust-Gedenken im NRW-Landtag.

Holocaust-Gedenken: Zeitzeugin bewegt im NRW-Landtag​
Foto: dpa/Oliver Berg

Mit dem Rollator fährt Ruth Weiss langsam zum Rednerpult des nordrhein-westfälischen Landtags. Die 98-jährige jüdische Journalistin und Autorin trägt zu ihrer schwarzen Kleidung einen leuchtend roten Schal, so als wolle sie sagen: „Seht, ich bin da.“ Dann berichtet die 1924 geborene Weiss davon, wie in ihrem Heimatort Fürth bei Nürnberg mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 alles anders wurde.

Ihre Schwester wurde mit Dreck beworfen, Verwandte wurden brutal zusammengeschlagen. Die neunjährige Ruth wurde von Kindern überfallen, hämmerte in Panik an die Schultür und flüchtete schließlich in einen Keller. Einmal zog eine Gruppe Pimpfe vom NS-Jungvolk an ihr vorbei - „mit dem Lied vom Judenblut, das vom Messer spritzt“, wie Weiss sich erinnert.

Ruths Vater konnte 1933 mit Hilfe von Verwandten nach Südafrika auswandern. Die restliche Familie, darunter Ruth, gelangte 1936 nach Johannesburg. „Wir erlebten die rassische Unterdrückung der nicht-weißen Mehrheit durch die weiße Minderheit“, sagt sie. „Ich lernte, dass Rassismus, Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit keine Grenzen kennen, dass dies ein Unrecht ist, das überall zu bekämpfen ist.“

Zeitzeugen wie Ruth Weiss werden immer weniger. Zum Holocaust-Gedenktag appellierten NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Vertreter jüdischer Verbände am Freitag eindringlich, die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten stärker in der Gesellschaft zu verankern. „Für alle Deutschen muss klar sein: Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, sagte Wüst in der Gedenkstunde des Landtags. „Jeder, der in Deutschland lebt, ist aufgerufen, sich mit den Schrecken der Vergangenheit immer wieder auseinanderzusetzen.“

Der 27. Januar ist der Jahrestag der Befreiung der Überlebenden des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz 1945 durch Soldaten der Roten Armee. Allein in Auschwitz ermordete die SS mindestens 1,1 Millionen Menschen, zumeist Juden. In ganz Europa fielen dem Holocaust rund sechs Millionen Juden zum Opfer.

Stärker als die rationale Analyse des schrecklichen Geschehens trifft die Menschen oft die emotionale Berührung mit den Verbrechen der Nazis. Bei Wüst ist es eine Puppe. Bei seinem Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sah er die Puppe Ybenka mit hellen blauen Augen, kleinen Löckchen und blauem Kleid. Sie gehörte der neunjährigen Vera Bader, die 1943 ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurde. Ihre Mutter konnte Vera verstecken, und beide wurden befreit.

Er habe die Puppe entdeckt und sofort gemerkt, dass er sie kannte, sagt Wüst. „Meine Mutter, Jahrgang 1942, besaß die gleiche Puppe. Sie hieß Bärbel.“ Seine Mutter sei „ohne Angst und behütet“ im Münsterland aufgewachsen - ganz anders als Vera. „Das eine kleine Mädchen der gleichen Generation durfte in Frieden aufwachsen, das andere kleine Mädchen musste ins Ghetto.“

Auf der Tribüne des Landtags hören Schulklassen den Berichten über den Terror der Nazis zu. Zwi Rappoport, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, warnt, dass Gedenktage wie der 27. Januar „in Routine zu erstarren drohen“, wenn es nicht gelänge, die kollektive Verantwortung für die Erinnerung an die Schoah den nachfolgenden Generationen zu vermitteln.

Heute leben in NRW wieder knapp 30 000 Juden in 22 Gemeinden. Die jüdische Gemeinschaft fühle sich in NRW heimisch und sei anerkannt, sagt Rappoport. Doch angesichts des grassierenden Antisemitismus bleibe immer ein Gefühl der Unsicherheit und des Zweifels. Und manche Familie denke über das Auswandern nach. Im November 2022 war in Essen mindestens dreimal auf das frühere Rabbinerhaus an der Alten Synagoge geschossen worden. Daran erinnert Landtagspräsident André Kuper. Der Kampf gegen Antisemitismus und gegen jegliche Intoleranz beginne „für uns alle im unmittelbaren persönlichen Umfeld“, sagt er.

In einem gemeinsamen Antrag für die Plenarsitzung fordern die Fraktionen von CDU, Grünen, SPD und FDP einen besseren Schutz des jüdischen Lebens. „Er ist nicht nur Aufgabe der Sicherheitsbehörden, sondern der gesamten Gesellschaft“, so die Fraktionen. „Antisemitische Äußerungen dürfen nie unwidersprochen bleiben.“

Die 98-jährige Ruth Weiss hat am Ende ihrer Rede noch einen „Traumwunsch“, der aber „Maßstab“ sein müsse. „Eine Welt - um mit Adorno zu schließen - in der alle Menschen ohne Angst verschieden sein können.“

(dpa)
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