Wo Behinderte außen vor bleiben

Gesetz und Praxis klaffen in vielen Bereichen weit auseinander.

Berlin. Deutschland ist weit entfernt vom Leitbild des gemeinsamen Lernens von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung. In der Schule klappt schon nicht, was später im Berufsleben und im Alltag selbstverständlich sein sollte und politisch angestrebt wird. Wie sehr Wunsch und Wirklichkeit auseinander klaffen, zeigt der "Behindertenbericht", den die Bundesregierung diese Woche in Berlin vorlegen will.

84,3Prozent besuchen die Förderschule. Von den 484000 behinderten Schülern besuchen 15,7Prozent eine allgemeine Schule. 77Prozent verlassen die Förderschule ohne einen Hauptschul- oder höher qualifizierten Abschluss. In zehn von 16 Bundesländern hat fast jeder zweite Förderschüler nicht einmal die Möglichkeit, den Hauptschulabschluss zu machen.

Die integrative Beschulung ist das Idealziel, das sich aus dem UN-Übereinkommen vom Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ableiten lässt. Bis heute aber diskutiert die Kultusministerkonferenz darüber, ob und wie sie die Empfehlungen zur Sonderpädagogik vom Mai 1994 fortschreiben soll.

Die Grundeinstellung hatte sich schon unter Rot-Grün verändert. Es geht nicht mehr um Schutz: Die Teilhabe und Selbstbestimmung behinderter Menschen ist die neue Leitidee. Die letzte Reform der Pflegeversicherung brachte eine Verbesserung, insbesondere für geistig Behinderte.

Mit dem "Persönlichen Budget" wird den Betroffenen statt Sachleistungen Geld gutgeschrieben, damit sie selbst entscheiden, wann, wo, wie und von wem sie ihre Leistungen erhalten möchten. Es ist eine wichtige Neuerung, aber erst 10000 haben das "Persönliche Budget" beantragt. Die 529 Gemeinsamen Servicestellen, die eigentlich durch den Bürokratie-Dschungel führen sollen, stehen in der Kritik.

Die erhoffte trägerübergreifende Beratung leidet daran, dass sie nur von den Krankenkassen (306 Stellen) und von den Rentenkassen (195 Stellen) ernst genommen wird. Die Agentur für Arbeit, die Sozialämter und die Träger der Unfallversicherung verfügen allenfalls vereinzelt über solche Servicestellen.

Von den Behindertenverbänden wird die geringe Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger ebenso kritisiert wie die "fehlende Qualifizierung" der Mitarbeiter.

Der Bericht beleuchtet 2005 bis 2008. Bis dahin war der Trend positiv. Die Arbeitslosigkeit ging um 33 Prozent zurück, bei den schwerbehinderten Menschen nur um 14 Prozent. Die Zahl der beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber, die keine Behinderten eingestellt haben, ist innerhalb von drei Jahren von 40000 auf 30000 im Jahr 2006 gesunken. Sie zahlen lieber eine Abgabe, als Behinderte zu beschäftigen.

Zwiespältig. Die Warnung der Unternehmen vor einer Klagewelle war unbegründet. Aber Verbände und Betroffene monieren eine diskriminierende Praxis insbesondere im Tourismus- und Versicherungsbereich. Mit Hinweis auf eine Behinderung wird etwa eine private Krankenversicherung verweigert.

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