Gastbeitrag Özil, sein Schweigen und die deutsche Gesellschaft

Michael Zeller über das Schweigen des ehemaligen deutschen Nationalspielers.

 Mit Arsenal ist Özil derzeit auf Werbetour in Asien.

Mit Arsenal ist Özil derzeit auf Werbetour in Asien.

Foto: Christoph Sator

Jetzt also ist sie gefallen, die denkbar schlechteste Entscheidung für alle Beteiligten. Mesut Özil hat die Brocken hingeworfen. Nie mehr, ließ er verkünden, werde er „für Deutschland“ dem Fußball nachjagen. Dass er das auch noch auf Englisch sagt, der Gelsenkirchener Junge, macht diese Nachricht noch bitterer. Längst rollt der Fußball bloß noch an der Seitenlinie mit. Es geht um mehr. Viel mehr.

Von Anfang an treibt mich die Affäre gewaltig um. Selten ist es mir so schwergefallen, meinen Platz zwischen den streitenden Parteien zu finden. Nicht zuletzt liegt damit ein Stück Lebenstraum zerbrochen am Boden.

Michael Zeller ist Autor und Schriftsteller. Foto: Archiv

Den größten Teil meiner erwachsenen Existenz wohnte und wohne ich bis heute in Häusern mit mehr oder weniger großer türkischer Mieterschaft. Als Mieter kommen wir einander nah. Wie viele der Fastenmonate Ramadan haben wir Wand an Wand miteinander verbracht! Das klangvolle Abendbrot der Familien nach Sonnenuntergang, dreißig Tage lang, ist nicht zu überhören. Ich sah türkische Kleinkinder neben mir zu Schülern werden, Lehrlingen. Hörte von ihren Hochzeiten, fast immer daheim in der Türkei gefeiert, erlebte das erste, das zweite Kind. Hieß eins davon nicht Mesut?

Es herrscht durchaus nicht immer eitel Sonnenschein im Haus. Es geschehen auch Dinge, die mir weniger gefallen oder mir so fremd sind, dass ich sie schlicht nicht verstehe. Doch Mietnachbarn muss man ja gottlob nicht lieben. Es reicht, Respekt voreinander zu haben. Ich erlebte und erlebe die türkischen Nachbarn weder besser noch schlechter als die deutschen oder polnischen. Allerdings hat mich die Vertrautheit täglichen Umgangs auch vor jeder Art von Romantisieren bewahrt. „Multi-Kulti“ hielt ich immer für eine selbstbetrügerische Farce. Dazu habe ich zu viel Respekt vor (jeder) Kultur, als dass ich sie in einem Mischmasch verkommen sehen möchte.

Keinen wird es wundern, dass ich mir als Schriftsteller diese fremdartige Sippschaft im Haus nicht entgehen ließ. Natürlich hielt ich über die Jahre schreibend fest, was ich nebenan zu sehen, zu hören und zu riechen bekam. Daraus habe ich in diesem Frühjahr ein kleines Buch gemacht, „Die türkische Freundin“. Eine der Geschichten, „Halbmond auf Schwarzrotgold“, spielt in einer westfälischen Großstadt auf der „Siegesmeile“ nach einem Spiel der deutschen Mannschaft bei einer anderen Fußballweltmeisterschaft. Gefeiert wurde in der warmen Sommernacht der Schütze des Siegestores. Sein Name: Mesut Özil.

„In den Kiosken längs der Siegesmeile herrschte Großbetrieb. Kaum ein Durchkommen zu den Bierkästen, die sich bis unter die Decke stapelten. Die engen Läden alle in türkischer Hand. Und auch in der Menge davor viele Türken, Schwarzrotgold ums Handgelenk gewunden oder um den Hals, im weißen Trikot deutscher Spieler, mit Namen und Nummer auf dem Rücken. „Me-sut! Me-sut! Me-sut!“, dröhnte der Sprechchor. Mesut — das war der Junge mit den verquollenen Augenlidern im traurig wächsernen Bubengesicht, das niemals zu lachen schien. Ein zierlicher Junge, im Ruhrgebiet als Türke geboren und aufgewachsen, hatte das entscheidende Tor geschossen. Für seine Altersgenossen hier, mit ähnlichem Lebensweg, war er heute der Held und würde es lange bleiben. Er war Türke und hatte dem Land, in dem er lebte wie sie, den Sieg beschert. Einen doppelten Sieg für sie. Und für „Deutsch-Land!“

War Mesut Türke, war er Deutscher? Mir selbst war das vor dem Fernseher gar nicht so zu Bewusstsein gekommen. Hier und jetzt saß es fest im Gehör und lief mir als Gänsehaut über den Rücken. „Me-sut! Me-sut! Me-sut!“ Das hatte etwas Bezwingendes. Ein Grund mehr zur Freude. Das also war „mein“ Land, in dem ich fieberte und feierte. Ich wollte genauer hinschauen in die Gesichter der Leute um mich herum, behängt mit den Symbolen dieses Landes. Ich drückte mich durch das Gewühl, bis ich endlich eine Flasche Bier erkämpft hatte. Oben, im ersten Stock über dem Kiosk, lag eine Frau mit verschränkten Armen im Fenster und schaute auf das bunte Treiben herab. Eine dicke alte Frau, mit Kopftuch, Türkin. Die deutsche Fahne, nagelneu, scharfe Knickfalten im Tuch, war über ihr Fensterbrett gebreitet. Das könnte Mesuts Oma sein, kam es mir in den Sinn, aus einem Dorf in Anatolien. Ihr halbes Leben hatte sie hier verbracht. In „Deutsch-Land!“

Das Buch mit diesem Abschnitt war kaum draußen, da begann in Russland die nächste Fußballweltmeisterschaft, die für die deutsche Mannschaft mit einem unerwarteten Einbruch rasch zu Ende ging. Mesut Özil spielte keineswegs schlechter als die anderen. Doch er hatte sich vorher eines Kulturbruchs schuldig gemacht, für hiesige Begriffe, als er sich mit dem Präsidenten seines Landes ablichten ließ. Das Skandalöse daran war, dass dieser Präsident — manchen überraschte das offenbar — nicht Steinmeier heißt, sondern Erdogan, ein in Deutschland zumal höchst angefochtener Politiker. Schlimmer aber noch wurde Özils Verhalten danach empfunden. Statt sich und sein Verhalten zu erklären, sagte er kein Wort. Er schwieg.

Wenn die redewütige Gesellschaft dieses Landes noch ein Sakrileg kennen sollte, dann dies: hin und wieder auch mal den Mund zu halten. Özils Schweigen wurde in den Medien des Landes immer lauter. Bis zuletzt die Lärmblase des monumental gewordenen Getöses zersprang — mit Mesuts Rücktritt, in englischer Sprache.

Und ich? Ich stehe dazwischen. Als Schriftsteller bin ich Teil dieser Öffentlichkeit und habe die politischen Anstandsregeln, wie sie hier gepflegt werden, zu achten. Man hat sich auf ein paar Dinge geeinigt, die man einfach nicht tun sollte. Gut so.

Doch ich habe auch Verständnis für den jungen Mann, der im Ruhrpott in bescheidensten Verhältnissen groß geworden ist, als Kind von türkischen „Gastarbeitern“. Muss er sich denn nicht unfassbar geehrt fühlen, vom Effendi, seinem Präsidenten, derart hofiert zu werden? Und dann soll er sich für diese „Freundschaft“ in und vor seinem Gastland entschuldigen — ist das nicht wirklich ein bisschen arg viel verlangt?

Trotz allem: Auch angesichts der vielen Scherben, die sich derzeit zwischen Deutschen und Türken hier auftürmen, bleibe ich Optimist. In meinem Buch „Die türkische Freundin“ gibt es viel Ermutigendes zu lesen. Allerdings ist vor Ungeduld zu warnen. Man sollte sich einen langen Atem antrainieren. Integration ist kein Tagesgeschäft. Dafür braucht es Generationen. Uns bleibt heute nichts anderes zu tun, als weiter einander sorgfältig zuzuhören, immer wieder miteinander zu reden. Reden. Nicht schreien — und auch nicht schweigen! Um ein letztes Mal das Fußball-Latein zu bemühen: Den Ball immer schön flach halten. So kommt er am schnellsten an sein Ziel …

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