Abschied: Der Doktor und das liebe Vieh

Landtierarzt Manfred Gerhard geht nach 45 Jahren in den Ruhestand. Nicht nur die Sprockhöveler Tierwelt wird ihn vermissen.

Sprockhövel. "40,5 Grad Fieber, eine kleine bakterielle Infektion, das ist bald wieder weg", diagnostiziert Manfred Gerhard, wischt das Fieberthermometer ab und gibt dem braun-gescheckten Kalb noch einen freundlichen Klaps. Bauer Hartmut Oberste-Lehn strahlt erleichtert. "Unserem Doktor macht bei Kühen keiner etwas vor. Der ist Tag und Nacht gleich da, wenn es Probleme gibt", lobt er seinen Landtierarzt, den er schon seit 45Jahren kennt.

Angesichts der wachsenden Zahl von Kleintierpraxen, deren Ärzte nur noch nebenbei Hausbesuche machen, ist das keine Selbstverständlichkeit mehr. Doch bald werden Sprockhövels Landwirte auf Gerhards Dienste verzichten müssen. Der 72-Jährige praktiziert nur noch bis zum Jahresende.

"Vielleicht war es einer meiner letzten Einsätze", sagt Gerhard nachdenklich, während er sich in Gummistiefeln und Kittel über das Eisengatter aus der Kälberbox schwingt. Spaß habe ihm die Arbeit immer gemacht. Die Fahrt zu den Höfen durch die schöne Sprockhöveler Landschaft, der Umgang mit den Tieren und natürlich der Kontakt zu den Menschen. Deren Kinder aufwachsen zu sehen. Wie Oberste-Lehn-Sohn Holger, der inzwischen den Hof übernommen hat.

"Aber einmal muss Schluss sein, halb kann man einen solchen Job nicht machen", sagt Manfred Gerhard bestimmt.

Ehefrau Ingeborg hat ihn wohl ein bisschen zu der Entscheidung ermutigt. "Früher haben wir uns manchmal gefragt, was ihm wichtiger ist, die Kühe oder die Familie", sagt sie ob der ständigen Erreichbarkeit, die sein Beruf erforderte. In Vor-Handy-Zeiten musste nicht selten auch sie oder einer der beiden Söhne zu Hause Telefondienst schieben, wenn der Gatte und Vater im Einsatz war.

Kam ein Anruf, waren die schönsten Sonntagspläne oder die Nachtruhe dahin. Ab ins Auto, hieß es dann für Gerhard. Arbeitskleidung und medizinische Ausrüstung liegen dort immer parat.

ManfredGerhard "In den 60er und 70er Jahren hatte ich manchmal bis zu 15Einsätze pro Tag. Wenn ich morgens vor dem Spiegel stand, habe ich mich manchmal gefragt, wann ich wieder eine Nacht durchschlafen kann", erinnert sich Manfred Gerhard. Als damals Dr. Geldmacher, bei dem er als Partner angefangen hatte, aufhörte, war er praktisch der einzige Landtierarzt in Sprockhövel.

Tierärzte mit Kleintierpraxen gab es noch nicht, dafür aber noch jede Menge Sprockhöveler, die nebenbei zwei, drei Kühe im Stall stehen hatten. Tagsüber bei Turmag, Hausherr oder Düsterloh auf Schicht und als kleines Zubrot noch ein bisschen Vieh, das war keine Seltenheit. Heute sind die "Kötter" - winzige Nebenerwerbshöfe - alle verschwunden. Die Zahl der Kühe, die er betreut , ist trotzdem in etwa gleich geblieben. Denn wer mit Milchvieh überlebensfähig bleiben wollte, musste wachsen. Auf 4000 bis 5000 Stück schätzt Gerhard die Zahl der Tiere, die er betreut.

"Ich habe 1961 Examen gemacht. Damals wurden die Zug-Pferde auf den Höfen langsam abgeschafft und durch Traktoren ersetzt, Reitsport gab es noch kaum. Deshalb habe ich mich im Studium hauptsächlich um Rindviecher gekümmert", begründet Gerhard seine Spezialisierung. Die machte ihn schnell über die Stadtgrenzen hinaus gefragt. "Er war einer der ersten, die einen Kaiserschnitt bei Kühen beherrschten", so Heinz Heuwinkel, ehemaliger Ortslandwirt und Milchviehhalter. Vorher habe man die Kälber im Mutterleib mit einem Stahlseil regelrecht zersägen müssen, wenn die Geburtsöffnung zu eng war oder das Kalb falsch lag. Für die Bauern natürlich immer ein großer Verlust.

Der Job, das war für Manfred Gerhard Passion, die er höchstens mal für Oper und Theater hinten anstellte. Karajan statt Kühe hieß es, wenn er mit Ehefrau dem großen Maestro nach Berlin nachreiste. Auch an den Wochenenden blieb zum Glück in den vergangenen Jahren etwas mehr Zeit für die Muse, seit er sich den Bereitschaftsdienst mit zwei Ärzten aus Schwelm und Ennepetal teilt. Künftig werden die Gerhards wohl häufiger in Theater- und Konzertsälen anzutreffen sein.

"Herr Doktor, können Sie sich noch eben Jackys Pfote anschauen, nur zur Sicherheit." Bevor er den Oberste-Lehn’schen Hof verlässt, gibt es noch einen kleinen Auftrag. Der Hofhund ist kürzlich in eine Scherbe getreten. "Die Wunde ist sauber", gibt Gerhard nach einem fachmännischen Blick Entwarnung. Mal eben nachschauen, das wir es bald nicht mehr geben. Sie werden ihn vermissen, ihren Landtierarzt.

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