Lesung: Die Nacht, in der die Mauer fiel

Antje Rávic Strubel und Jürgen Becker: Ganz eigene Erinnerungen im Heine-Haus.

Düsseldorf. Erinnerungen sind wankelmütig. Sie kommen, sie gehen, und gelegentlich flüchten sie in die Camouflage, die Täuschung. Bei manchen Kindheitserlebnissen wissen wir nicht, ob wir uns an das Geschehen selbst oder nur an ein Foto davon erinnern. Wie viel mehr gilt das für ein geschichtliches Ereignis wie den Fall der Mauer, das medial derart durchbuchstabiert wurde.

Pünktlich zum 20-jährigen Jubiläum ist jetzt der Sammelband "Die Nacht, in der die Mauer fiel" erschienen, in dem sich 25 Autoren an den 9. November 1989 zu erinnern versuchen. Moderiert von Herausgeber Renatus Deckert lasen im Heinrich-Heine-Haus Antje Rávic Strubel und Jürgen Becker.

Und die Erinnerungen der 35-Jährigen, in Potsdam aufgewachsenen Autorin sowie ihres 1932 geborenen Kollegen, der mit 7 Jahren nach Erfurt zieht und 1947 wieder nach Köln zurückkehrt, hätten unterschiedlicher nicht sein können.

Strubel erzählt in ihrem Text "Gezeiten" aus der Ich-Perspektive und tastet sich mühsam durch mediale Bilder zum Erlebten vor, wie dem beim Frühstück laufenden Fernseher, einem Handballspiel, dem Westkaufhaus - Bruchstücke einer unsicheren Retrospektive.

Ganz anders Becker, der sein Alter Ego Jörn Winter, den Helden seines Romans "Aus der Geschichte der Trennungen", als Reisenden in Sachen Kunst am 10.November 1989 auf eine "Reise nach Leipzig" schickt und Erinnertes und Erlebtes bruchlos ineinander fließen lässt.

Im Gespräch berichtete Becker dann, dass er zwischen 1947 und 1989 nie wieder in der DDR gewesen sei: "Ich lebte mit dem Rücken zum Osten". Der Grund lag in der Begeisterung für die modernen Kunstströmungen des Westens.

Und auch das Interesse für den theoretischen Sozialismus in den 1960er Jahren habe ja mit dem real existierenden kaum etwas zu tun gehabt. Nichtsdestotrotz habe ihn die "Schizophonie der Deutschen", also die Parallelität der Systeme beschäftigt.

Beckers Leerstelle Ost findet bei Strubel eine Entsprechung. Der Zug von Potsdam nach Ostberlin umfuhr Westberlin immer in einem großen Bogen und so habe sich dort ein paradiesisches Vakuum gebildet. "Es gab zwei Leben", resümierte Strubel ihre Kindheit.

Die "innere Emigration" ihrer Eltern habe das Leben in ein öffentliches und ein privates geteilt. Mit teils grotesken Folgen für die Kinder, die nicht berlinern durften, weil Hochdeutsch als Widerstand galt.

Diese doppelte Wahrnehmung präge bis heute ihren Blick auf die Wirklichkeit, sagte Antje Rávic Strubel. Wenn sie in ihrem Roman "Tupolew 134" eine historische Flugzeugentführung von Danzig nach Westberlin beschreibe, so läge die geschichtliche Wahrheit allein in der Vielzahl der Perspektiven des Geschehens.

Und so hat auch die Erinnerung an den 9. November ihre Rechtfertigung allein in der Vielstimmigkeit des Chores, der sich zwischen Dichtung und Wahrheit erhebt. "Die Nacht, in der die Mauer fiel - Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989"; Hrsg.: Renatus Deckert, Suhrkamp, Frankfurt, 8,90 Euro.

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