Wenn Flüstern und Wispern zu Musik wird

Stuttgart (dpa) - Es ist der Wechsel zwischen Klang und Stille, es sind die leisen Töne, es sind die besonderen Geräusche, die diese Oper zu etwas Besonderem machen.

Wenn Flüstern und Wispern zu Musik wird
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Die „Suche nach einer neuen Form der theatralischen Vokalität“ hatte die Intendanz angekündigt, und das Premierenpublikum bekam mit „wunderzaichen“ genau das: viel Experimente, deutliche Grenzüberschreitung Richtung Schauspiel, Spannung zwischen Geräusch und Harmonie. Für die Uraufführung der ersten Oper des deutsch-französischen Komponisten Mark Andre gab's viel Applaus.

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Die Geschichte zieht das Publikum ins 16. Jahrhundert, irgendwie dann aber auch nicht. Thematisch knüpft das zweistündige Werk an das Wirken des Humanisten und Philosophen Johannes Reuchlin (1455-1522) an. Dieser rief Christen, Juden und Muslime vor rund 500 Jahren zum Dialog auf, wurde zum Wegbereiter der Aufklärung und gilt heute als Vorbild der Toleranz und des interreligiösen Dialogs. Goethe bewunderte ihn: „Wer will sich ihm vergleichen, zu seiner Zeit ein Wunderzeichen.“ Der Titel der Oper schreibt sich mit a - in Anlehnung an die Schreibweise zu Reuchlins Zeit.

Mark Andre holt den Gelehrten in die Gegenwart, schickt ihn als modernen Pilger nach Israel. Schauplatz ist der Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv. Eine Gruppe Reisender wartet auf die Einreise. Unter ihnen Johannes Reuchlin, der gegen Ende seines Lebens das Land besuchen möchte, dessen Sprache und Religion er seit vielen Jahren studiert. Doch der große Humanist wird abgewiesen, die Polizei verweigert ihm die Einreise ins Gelobte Land. Am Flughafen festgesetzt reflektiert Reuchlin seine Identität und stirbt später an einem Herzinfarkt. Losgelöst vom Körper beobachtet er das Treiben am Flughafen und denkt über Auferstehung nach.

Das Stück ist musikästhetisch alles andere als leichte Kost. Es steckt voller Experimente: So brachte Andre Geräusche aus Israel mit, etwa aus der Grabeskirche in Jerusalem. Als „akustische Fotografien“ wurden sie zu einer Grundlage seiner Kompositionen. Mithilfe von Live-Elektronik holt er die Aura der Orte ins Stuttgarter Opernhaus. Hinter andere der meist leisen Geräusche verbergen sich das Drehen kleiner Windräder oder das Reiben von Geigenbögen auf Kleidung. Flüstern, Hauchen, Wispern und Raunen werden zum Instrument.

Andre beweist sich als Grenzgänger und belegt, welch Schüler er ist: Helmut Lachenmann, dem Meister der klanglichen Verfremdungen und neuen Spieltechniken. Andres theatralischer Grenzgang zwischen Oper und Schauspiel wiederum zeigt sich auch darin, dass die Hauptperson Johannes eine reine Sprechrolle hat, verkörpert vom Schauspieler André Jung aus dem Ensemble der Münchner Kammerspiele. Den Gesangspartien lässt Andre in dem rund zweistündigen Stück nicht viel Raum, sich auszuzeichnen. Sie sind eher Tongeber denn Interpreten.

Besonderen Beifall gibt es am Ende nicht nur für Andre selbst, dem die Ovationen auf der Bühne des ausverkauften Großen Hauses fast unangenehm zu seien schienen, sondern auch das Regie-Duo Jossi Wieler und Sergio Morabito, Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock sowie Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling und sein Orchester. Wieler zeigte sich schon vorab „ein bisschen stolz“ über die nach „Peter Pan“ zweite Uraufführung seines Hauses in dieser Spielzeit. Kürzlich hat der Schweizer seinen Vertrag in Stuttgart bis 2018 verlängert.

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