Auf fremden Sofas schlafen

Christine Neder hat 90 Nächte als Couchsurferin in der Hauptstadt verbracht.

Berlin. Eine junge Frau macht ein dreimonatiges Praktikum in Berlin, und weil sie für diese Zeit keine kostengünstige Unterkunft findet, wird sie eben für 90 Tage in fremden Betten übernachten. Klingt ziemlich verrückt?

Das würde die junge Frau mit dem Praktikum wohl gar nicht bestreiten. Aber es ist kein Argument, es nicht zu tun. Christine Neder hat es getan. Vom 17. August bis zum 15. November vergangenen Jahres übernachtete sie jede Nacht in einer anderen Berliner Wohnung. 90 Nächte, 90 Betten.

Ihre Gastgeber fand sie vor allem über das Internet. „Couchsurfing“ heißt das Prozedere, bei dem Privatleute Reisenden für eine Nacht ihr Schlafsofa, ihr Gästebett oder sonstige Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Im Fall von Christine Neder reichte die Bandbreite von der Luxuswohnung mit Whirlpool in Berlin-Mitte bis hin zum spartanischen Campingbus neben dem Kanzleramt.

Was sie in diesen 90 Tagen alles erlebt hat, hielt sie in einem Tagebuch im Internet fest. Und weil es so viele Menschen interessierte, ist ihre Geschichte jetzt auch als Buch erhältlich. Pro Kapitel eine Nacht.

„Die Tür geht auf und ein großes Mädchen mit Dutt, Tigerdress und rosa Hauspuschen begrüßt mich voller Euphorie. Sie ist ab der ersten Minute in Plauderstimmung.“ So beginnt der Eintrag der 39. Nacht in Berlin im „Tagebuch einer Couchsurferin“. Doch wer glaubt, nun bei jedem Gastgeber die chronologische Wiedergabe des gesamten Aufenthalts inklusive Begrüßungs- und Abschiedszeremonie zu erfahren, dem sei gesagt, dass dem nicht so ist.

Von jedem Gastgeber und jeder dazugehörigen Wohnung sucht sich Christine Neder das Detail raus, das sie am meisten beeindruckt hat. Bei dem großen Mädchen im Tigerdress war es Plauderei, bei Magdalena war es der Kickertisch im Designer-Handtaschen-Laden und Stefan, dem war nicht wohl bei dem Gedanken, dass sein Privatleben in einem Blog oder Buch auftauchen könnte, und daher bekommt er nur ein ganz kurzes Kapitel.

Mit viel Witz und Selbstironie erzählt Christine Neder von ihrem Projekt, von den anfänglichen Zweifeln, den unterschiedlichsten Begebenheiten und dem immer stärker werdenden Wunsch, irgendwann auch mal wieder zwei Nächte im selben Bett zu schlafen.

Bis es soweit ist, lernt sie zum Beispiel die 57-jährige Jutta kennen, die das erste Treffen platzen lässt, weil es unter keinem guten Stern steht, die aber beim zweiten Versuch ihre Tarotkarten befragt und Christine Neder eine tolle Zukunft voraussagt. Oder Eddy, der seine ganze Wohnung mit Hochbetten zugestellt hat, um möglichst viele Couchsurfer aufzunehmen.

Am Ende stellt sie fest, dass man durchaus 90 Tage bei fremden Menschen schlafen kann, ohne dass einem was Schreckliches passiert. Und dass ihr jeder Gastgeber etwas mitgegeben hat. — eine schöne Zeit, eine Geschichte oder einen Denkanstoß.

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