Löw reizt EM-Casting aus - ter Stegen darf hoffen

Rastatt (dpa) - Zwei Neulinge, ein Casting-Novum bei den Torhütern und noch mehr Vertrauen in die Jugend: Joachim Löw sorgte beim Start der Mission „EM-Titel 2012“ gleich mit mehreren überraschenden Entscheidungen für Staunen in Fußball-Deutschland.

Ganz unaufgeregt verkündete der Bundestrainer 33 Tage vor dem ersten Ernstfall der deutschen Nationalmannschaft gegen Portugal, dass der 18-jährige Julian Draxler und der nur zwei Jahre ältere Torwart Marc-André ter Stegen die Chance auf einen EM-Sommer in Polen und der Ukraine bekommen. „Wir müssen innerhalb kürzester Zeit ein Team formen, das in der Lage ist, Herausragendes bei dieser EM zu leisten“, erklärte Löw, der klassisch in Schwarz-weiß gekleidet entspannter wirkte als vor seinen ersten Turnieren als DFB-Chefcoach 2008 und 2010.

Rücksicht auf frühere Verdienste oder Länderspiel-Erfahrung nimmt der 52-Jährige für sein Ziel, erstmals nach 16 Jahren wieder einen Titel nach Deutschland zu holen, nicht. So werden am Freitag statt des Leverkuseners Simon Rolfes (26 Länderspiele), des Hamburgers Dennis Aogo (10) und des Wolfsburgers Christian Träsch (10) der Schalker Draxler (0) und der Gladbacher ter Stegen (0) in den Flieger nach Sardinien steigen, wo das DFB-Team das erste von zwei Vorbereitungscamps beziehen wird. „Die Entscheidung ist für andere Spieler gefallen“, sagte Löw kurz und knapp zum Verzicht auf jene Akteure, die bei der souveränen Qualifikation noch gefragt waren.

Insgesamt berief Löw in Rastatt wie vor der WM 2010 erneut 27 Spieler in sein vorläufiges Aufgebot. Erst am 29. Mai muss der Bundestrainer seinen endgültigen Kader von 23 Akteuren, mit dem er die Endrunde vom 9. Juni bis zum Finaltag am 1. Juli in Kiew bestreiten will, der UEFA melden. Das schon in der Vergangenheit praktizierte Spieler-Casting wird Löw „so lange ausreizen, wie wir die Chance haben“. Denn: „EM heißt, dass jeder Spieler bis zur letzten Stunde um seinen Platz kämpft.“ Erst zwei Tage vor der EM-Generalprobe am 31. Mai in Leipzig gegen Israel muss Löw festlegen, welches Quartett er zu Hause lässt.

Die acht nominierten Spieler des FC Bayern und die fünf vom deutschen Meister Borussia Dortmund werden ebenso wie Mesut Özil und Sami Khedira von Real Madrid sowie Miroslav Klose von Lazio Rom erst verspätet in die EM-Vorbereitung einsteigen. Jeweils zwei Tage nach dem letzten Spiel für ihren Verein reisen sie nach, was vor allem durch das Champions-League-Finale der Bayern am 19. Mai gegen Chelsea und das drei Tage später angesetzte Robben-Wiedergutmachungsspiel gegen die Niederlande für Löw die Arbeit erschwert. „Wir haben diesmal keine einfache Situation zu lösen“, bemerkte der Freiburger.

Am positiven Herangehen an das EM-Unternehmen ändert dies aber nichts. „Wir gehen mit einer guten Basis in die Vorbereitung. Wir haben Selbstbewusstsein genug zu sagen, wir können weit kommen“, betonte Löw, auch wenn er sein Team weiter „nicht als Topfavorit“ einstufen will. Die Belastungsfähigkeit seiner Spieler bei einem Turnier mit „Weltklassemannschaften“ als Gegner schon in der Vorrunde sieht der Trainer als eines der entscheidenden Kriterien an. Mit dem Erfolgsdruck könne man leben: „Ich glaube schon, dass wir relativ schwindelfrei sind und unsere Spieler damit gut umgehen.“

Löw hat sich für die weitere Verjüngung mit Spielern wie Ilkay Gündogan (21) sowie Lars und Sven Bender (23) entschieden. Die Benders könnten als erstes Zwillingspaar für Deutschland bei einem Turnier spielen. Im Angriff gibt Löw dagegen dem 31-jährigen Cacau neben Miroslav Klose und Mario Gomez eine weitere Chance. Die Comeback-Hoffnungen des Wolfsburgers Patrick Helmes erfüllten sich nicht. „Patrick Helmes ist eher ein Konterspieler, wenn er Platz hat“, begründete Löw. Sein Team würde aber eher die Qualitäten des Stuttgarters Cacau auf engem Raum genötigen: „Cacau hat bei uns als Joker immer überzeugt und das eine oder andere Tor gemacht.“

Mit Jungprofi Draxler setzte Löw seine Serie von Nominierungsüberraschungen fort, die 2006 unter Bundestrainer Jürgen Klinsmann mit David Odonkor begonnen hatte und vor zwei Jahren die heutige Stammkraft Holger Badstuber ins Team spülte. „Er hat Potenzial für die nächsten Jahre“, sagte Löw über Draxler. Dass erstmals vier Torhüter berufen wurden, begründete die Sportliche Leitung vor allem mit der späten Anreise von Bayern-Keeper Manuel Neuer. Bundestorwartcoach Andreas Köpke sieht nach der Münchner Nummer 1 allerdings „keine Reihenfolge“. Neuling ter Stegen wittert forsch seine sportliche Chance: „Keiner wird dem anderen etwas schenken.“

Einen Monat hat Löw jetzt Zeit, aus seinen 27 Auserwählten ein titelreifes Team zu formen, das sich in der Vorrunde zunächst gegen Portugal, die Niederlande und Dänemark durchsetzen muss. Alle drei Partien finden in der Ukraine statt. Auch Löw beobachtet die politische Situation dort genau. „Ich bin der tiefsten Überzeugung, dass Menschenrechte eines unserer höchsten Güter sind“, sagte Löw bei der Kaderpräsentation. Selbstverständlich müssten Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, ein Schutz für Minderheiten und ein „humanitärer Umgang mit Frau Timoschenko“ beobachtet werden. „Egal wo, ob in China oder Nordkorea oder der Ukraine“, betonte der Bundestrainer.

Einen sportlichen Boykott der EM hält er „nicht für sinnvoll“. Da das Turnier im Fokus der Weltöffentlichkeit stehe, sei es eine gute Möglichkeit, dass „Dinge diskutiert werden“, meinte Löw: „Wir werden nicht als die Weltpolizei zur EM in die Ukraine reisen. Wir wissen, dass wir vorrangig den sportlichen Erfolg anstreben.“ Genau gesagt: Den Titel!

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