Blaue Stunden im Eis - Spitzbergen im Winter

Longyearbyen (dpa/tmn) - Von November bis Januar sind in Spitzbergen die Tage wie die Nächte: dunkel. Doch wenn Tiefschwarz zu Dunkel- und dann zu Hellblau wird, sind Bewohner und Touristen gleichermaßen euphorisch.

Für kurze Zeit scheint dann vieles möglich.

Tiefschwarz: Es ist noch dunkel, als es ans Anziehen geht. Zuerst den Overall - wasserabweisend und windfest. Darüber die Stiefel, bei denen zum Schutz vor Kälte ein Schuh in einem größeren steckt. Die Handschuhe - die dünnen aus Wolle, darüber die wattierten und dann das schwere Paar, das zum Overall gehört. Die Sturmmaske über das Gesicht - nur die Augen sind nun noch frei. Dann den Helm über die Sturmmaske ruckeln und die Skibrille aufs Gesicht drücken - kein Zentimeter Haut liegt mehr frei. Das schwarze Schneemobil reagiert sofort. Mit der rechten Hand Gas geben und schon gleitet das Gefährt durch den Schnee.

Spitzbergen, oder Svalbard, wie man im Norwegischen sagt, ist eine Inselgruppe im arktischen Meer. Sie liegt etwa auf halbem Weg zwischen Norwegen und dem Nordpol. Im Winter ist die ganze Insel mit Schnee bedeckt - die Durchschnittstemperatur liegt bei minus 15 Grad. Dazu kommt die Dunkelheit. Von Mitte Oktober bis Mitte Februar geht die Sonne nie auf.

Mit 50 bis 60 Stundenkilometern geht es immer weiter in die Wildnis hinaus. Schneebedeckte Dünen, kilometerweit. Auf dem Gipfel werden die Maschinen abgeschaltet. Und auf einmal ist es ganz still. Dann geht am Horizont zum ersten Mal seit langer Zeit die Sonne auf.

Hellblau: An diesen Tagen im Februar, wenn die Sonne zurück ist, gleicht Longyearbyen einem Taubenschlag. Eine Hauptstraße, gesäumt mit Bungalows in Gelb, Grün und Rot, eine Handvoll kleinerer Wege, die von ihr abgehen. Sich zu orientieren, ist nicht schwer.

Ist die Sonne aufgegangen, ist sie nur für rund 20 Minuten zu sehen. Dann setzt die Dämmerung wieder ein. In der kurzen Zeitspanne spazieren Bewohner zu Dutzenden durch die verschneiten Straßen, halten das Gesicht zur Sonne, ein Lächeln auf den Lippen.

Am Abend ist im Irish Pub kein Platz mehr frei. Die Bergleute aus den Kohlenminen, die Klimaforscher, die Touristenführer und die Besucher. Alle sind sie da. Bis Mitte der 90er Jahre saßen fast nur Männer in Longyearbyen am Tresen. Ursprünglich ist der Ort ein Minenarbeiterstädtchen. Heute gibt es noch drei aktive Minen mit rund 400 Arbeitern.

Mahdi Shabanimash, 31, arbeitet in der Mine Svea. Von Longyearbyen aus fliegen er und die anderen Kumpel jeden Montag mit dem Helikopter 20 Minuten zur Grube. Während der Woche schlafen sie in einem Wohnheim in der Nähe der Mine - am Donnerstag kommen sie zurück.

Doch die Ära von Shabanimash und seinen Kollegen geht zu Ende. Die leicht zugänglichen Kohlenschätze sind fast vollständig abgebaut. Und so verändert sich seit Mitte der 90er Jahre die Gesellschaft Longyearbyens rasant. Die Kumpel werden weniger. Stattdessen leben immer mehr Forscher auf Spitzbergen. Spitzbergen ist zum Mekka der Arktisforschung geworden. Dazu kommen die Touristen. Seit einigen Jahren legen Kreuzfahrtschiffe auf Spitzbergen an.

Mit den Touristen kommen neue Jobs. Mitten in der Arktis stehen nun etwa ein Vier-Sterne-Hotel und ein Gourmet-Restaurant. Es gibt ein Museum, in dem Besucher sehen können, wie die Minenarbeiter um 1900 lebten.

Noch ein Bier mit Shabanimash. Dann geht es zurück ins Hotel. Wäre nicht die Kälte, man könnte stundenlang die Hauptstraße auf und ab spazieren. Der Schnee knirscht unter den Füßen, um einen herum sind schemenhaft Eisdünen zu erkennen und am Himmel leuchten Tausende Sterne. Und dann taucht plötzlich ein neongrüner Streifen am Horizont auf. Er verändert seine Form und tanzt. Kurz kneift man sich in den Arm - doch das neongrüne Licht bleibt. Nordlichter.

Dunkelblau: Schritt für Schritt geht es den Berg hinauf - immer Trond hinterher. Bloß nicht zurückfallen, er ist der Mann mit dem Gewehr. Auf Spitzbergen leben rund 2000 Menschen und 3000 Eisbären. Sie können für den Menschen gefährlich werden. Im Fall eines Angriffs wegzurennen, ist zwecklos. Eisbären laufen bis zu 40 Stundenkilometer schnell. Diese Gefahr ist in Longyearbyen allgegenwärtig. Alle paar Meter steht ein Warnschild: ein rotes Dreieck mit einem Bären.

Fast eine Stunde lang geht es immer bergauf. Die Dämmerung nimmt langsam zu. Dutzende Facetten von Blau. Dann stoppt Trond plötzlich vor einem Loch im Weg. Es ist mit einem großen Schneeball verdeckt und in etwa so groß wie die Öffnung eines Schlafsacks. „Der Eingang“, erklärt Trond. Dann rollt er den Schneeball zur Seite und leuchtet mit der Taschenlampe hinein. Etwa zwei Meter Tunnel sind zu erkennen, dahinter ist wegen einer Kurve nichts mehr zu sehen. Der Tunnel ist etwa so breit wie die Röhre in einer Wasserrutsche.

Die Gletscherhöhlen-Touren sind so etwas wie das Highlight des Winterprogramms für Touristen in Spitzbergen. Durch den Schnee steigt man herunter in die Flussbetten, in denen im Sommer das Tauwasser vom Gletscher abfließt. Von dort aus kann man unter den Eisberg gelangen. Für Menschen mit Klaustrophobie nicht geeignet, stand im Prospekt. Als Trond einen an den Füßen aus dem Tunnel und in die Höhle zieht, denkt man, dass es leichtfertig war, diese Warnung zu ignorieren.

Unten angekommen, steht man in einem Hohlraum, obendrüber Hunderte Tonnen Gletscher. Die Eiszapfen hängen zu Hunderttausenden von der Decke. Die Stirnlampen an unseren Helmen leuchten den Raum aus. Die Eiszapfen glitzern im Licht.

Zurück außerhalb des Berges ist es dunkel. Erleichtert und mit schnellen Schritten geht es auf den Weg zurück in den Ort. Oben der Sternenhimmel. So viele Sterne sind in Deutschland nie zu sehen. Dann geht es weiter den Berg hinunter. Trond ist inzwischen viele Meter weit voraus. Auf einmal ist rechts neben einem schemenhaft etwas zu erkennen. Das war kein Eisbär. Oder doch?

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