Die Predigt für Weihnachten schreiben - ein Selbstversuch

Ekkehard Rüger ist nicht nur WZ-Redakteur, sondern auch Ehemann einer Pfarrerin. Die diesjährige Weihnachtspredigt hat das Paar gemeinsam geschrieben.

Die Predigt für Weihnachten schreiben - ein Selbstversuch
Foto: Ekkehard Rüger

Burscheid. „Wir könnten diesmal Heiligabend auch zusammen predigen“, schlägt meine Frau vor. „Wie entsteht eigentlich eine Predigt? Schreib das doch mal auf“, schlägt der Kollege vor. Und ich antworte in beiden Fällen: „Ja, gut.“ Jetzt sitze ich hier und nähere mich diesem Artikel, wie ich mich auch meinen Predigten nähere: durch Assoziationen, Gedankensprünge, Ideensammlungen. Was will ich sagen? Wie will ich’s sagen? Und wo verdammt ist der rote Faden für das Ganze? Gerade eben habe ich den ersten Einstiegsversuch mit über 40 Zeilen noch einmal komplett gelöscht.

Wenn dieser Sonntag ein normaler Sonntag wäre, hätte ich wahrscheinlich spätestens vor einer Woche in die Perikopenordnung geguckt. Darin ordnet die Evangelische Kirche in Deutschland jedem Sonntag im Kirchenjahr die Lesungen und den Predigttext aus der Bibel zu. Bei uns im Rheinland kann man sich daran halten, muss man aber nicht.

Aber dieser Sonntag ist kein normaler Sonntag. Dieser Sonntag ist Heiligabend. Die Frage nach dem Text hat sich damit eigentlich erledigt. Man kann auch an diesem Tag über vieles predigen, aber ich mag mir so recht keine andere Basis vorstellen als das zweite Kapitel des Lukasevangeliums in der Luther-Übersetzung: „Es begab sich aber zu der Zeit . . .“

Es ist schön, die alte biblische Geschichte zu hören, ihren vertrauten Wortklang und die vom Engel verkündete große Freude: „Denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Und wenn wir Christen gefragt werden, was wir denn damit meinen, wenn wir Jahr für Jahr wieder dieses Fest feiern, antworten wir gerne: „Dass Gott Mensch geworden ist.“ Auch ich werde am Sonntag so etwas Ähnliches sagen.

Aber damit fängt das Predigen eigentlich erst an. Denn die alte Formel taugt nichts, wenn sie nicht gleichzeitig mit einer Ahnung verbunden ist, was das denn mit uns heute zu tun haben könnte, warum uns diese Aussage so wichtig ist. Und woran wir sie in diesen Tagen festmachen wollen.

Vielleicht liegt es daran, dass ich Journalist bin, aber bei der Leitfrage, „was jetzt dran ist“, möchte ich mich in der Regel nicht zu früh festlegen. Ein Thema mit zu langem Vorlauf kann am Sonntag schon wieder überholt sein. Manchmal ist die Suche daher mühsam, manchmal geht es ganz schnell. Und oft spielt der Zufall eine Rolle.

Donnerstag, 14. Dezember. Bei der Pressekonferenz der Evangelischen Kirche im Rheinland geht es eigentlich um die Landessynode im Januar. Aber dann wird Präses Manfred Rekowski danach gefragt, was er zum wachsenden Antisemitismus sagt. Und er antwortet: „Es ist nicht Aufgabe der Juden zu protestieren, sondern unsere Aufgabe.“

Eine Woche zuvor hatte meine Frau, Pfarrerin von Beruf, ein interreligiöses Seminar besucht — und von einem jüdischen Teilnehmer die düstere Prophezeiung mitgebracht: „In 50 Jahren leben hier keine jüdischen Gemeinden mehr.“ Beide Sätze beschäftigen uns seither immer wieder. Es bedarf nur eines kurzen Gesprächs im Wohnzimmer, um uns darauf zu verständigen: An einem Tag, an dem wir Christen die Geburt eines jüdischen Kindes feiern, können und wollen wir nicht zu einer Judenfeindlichkeit schweigen, wie wir sie in dieser Form in Deutschland nicht mehr für möglich gehalten hätten.

Heiligabend auf der Kanzel zu stehen, ist ein großes Glück — aber man steht auf dünnem Eis. Die Kirche ist voll wie sonst nur selten, und die Menschen in den Bänken sind emotional aufgebrochen wie sonst nur selten. Wer Grund zur Freude hat, freut sich an diesem Tag besonders. Wer trauert, leidet an diesem Tag besonders. Alte Familienkonflikte machen sich schmerzlich bemerkbar, verborgene Sehnsüchte werden wieder geweckt.

Weihnachten lässt niemanden gleichgültig, auch die Distanzierten nicht. Entsprechend bewegen sich auch die Erwartungen an den Gottesdienst nicht auf Normalniveau. Dass die Menschen getrösteter, beglückter, bewegter aus der Kirche herausgehen, als sie hineingekommen sind, ist immer das Ziel — an diesem Tag besonders.

Zum Glück liegt das nicht allein in meiner Hand. Das meine ich jetzt nicht in erster Linie transzendent, sondern zunächst einmal ganz irdisch-praktisch. Wie die Küsterin die Kirche geschmückt hat, wie die Abendatmosphäre auf die Gemeinde wirkt, welche Lieder gesungen werden und welche Stimmung die Musikstücke für Orgel, Geige und Cello hervorrufen: All das trägt dazu bei, dass das Gesamtkunstwerk Gottesdienst gelingt. Natürlich auch die Frage, wie das funktioniert mit dem gemeinsamen Predigen. Bisher haben wir das erst einmal gemacht.

Normalerweise muss ich nur meine eigenen Puzzlestücke im Kopf sortieren. Jetzt sind da zwei mit ihren Ideen, mit dem, was sie unbedingt sagen wollen. Aber bitte nicht zu lang. Aber bitte nicht zu viele Gedanken. Aber bitte mit rotem Faden. Je drei Teile für jeden, ich fange an. Aber womit?

Mir hilft oft, mich den großen Themen über die kleinen, persönlichen Erfahrungen zu nähern. Das Kinder- und Jugendbuch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ fällt mir ein, das meine Haltung zur Judenverfolgung schon als Kind vielleicht stärker geprägt hat als die meisten Bücher, die ich später dazu gelesen habe. Mein eigenes rosa Kuscheltier von damals kommt mir in den Sinn. Das reicht für den Einstieg.

Die übrigen Puzzlestücke werden intuitiv auf die verbleibenden Predigtteile verteilt, wie sie passen könnten: Gedanken, Ideen, Fragmente — und ein jahrhundertealter Text, der die Brücke schlägt zwischen dieser jüdischen Geburt vor 2000 Jahren und der Aufforderung an uns heute, dem Judenhass nicht tatenlos zuzusehen. „Christus hat keinen Körper außer deinem. Keine Hände, keine Füße auf der Erde außer deinen“, hat Teresa von Avila (1515—1582) geschrieben.

In die endgültige sprachliche Form werden wir unsere Predigt erst heute bringen. Und dann versuchen, beim Zusammenfügen unserer Teile den roten Faden und uns selbst nicht zu verlieren. „Dass er rede, was man gern hört“, hat schließlich schon Luther als eine von sechs Anforderungen benannt für einen „Prediger, wie ihn die Welt haben will“.

Ob die Hoffnung am Ende aufgeht, liegt allerdings nicht nur allein in unseren Händen. Und das meine ich jetzt doch auch ein bisschen transzendent.

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