Martin Baltscheit: Kinderbücher dürfen auch ernst sein

Der Düsseldorfer Martin Baltscheit im Gespräch — über das Geschichtenerzählen für die Kleinen und über die großen Dinge.

Martin Baltscheit: Kinderbücher dürfen auch ernst sein
Foto: Stefanie Weiler

Düsseldorf. Die neunjährige Paula wäre so gern mitgekommen — zum Gespräch mit dem Düsseldorfer Kinderbuchautor, der sie gerade erst beim Lesen seines Buches zu Tränen gerührt hat. Weil sie aber in die Schule muss, hat sie ihm ein paar Fragen notiert und vorsorglich „Danke für das Interview“ unter den Zettel geschrieben. Martin Baltscheit freut sich und malt in Windeseile einen Löwen mit einem Herz in der Pranke auf das Blatt mit den Fragen. Auf Paulas wichtigstes Anliegen „Es ist schade, dass es kein Happy End gibt, wieso musste es so traurig ausgehen?“ hat Baltscheit ein paar kluge Antworten parat. Um die zu verstehen, muss man kurz erzählen, worum es in „Nur ein Tag“ geht.

Martin Baltscheit: Kinderbücher dürfen auch ernst sein
Foto: Dressler-Verlag

Die Geschichte, die es schon länger als Theaterstück und als Hörbuch (die Fliege wird bezaubernd gesprochen von Annett Louisan) und demnächst als Kinofilm gibt, ist soeben als Buch erschienen: Wildschwein und Fuchs sitzen am See. Sie schließen die gerade geschlüpfte, quirlige und von Tatendrang überschäumende Eintagsfliege ins Herz. Die weiß aber nicht, dass sie nur einen Tag lebt. Die Freunde verschweigen es ihr — bis sich der Fuchs dann doch verplappert. Natürlich stirbt sie am Ende, auch wenn Paula bis zur letzten Seite auf eine Wendung zum Guten setzt.

„Aber es ist doch ein Happy End“, beantwortet Baltscheit ihre Frage. „Die Fliege hat dich beschenkt. Und sie hat ihre Aufgabe, ein gutes, spannendes Leben zu führen, toll erfüllt. Sie hat Fuchs und Wildschwein zum Lachen und zum Weinen gebracht.“ Wer nur einen Tag hat, braucht das ganze Glück in 24 Stunden — so die Botschaft des Buches, die der römische Dichter Horaz schon vor 2000 Jahren mit „Carpe Diem“ („Nutze den Tag“) verkündete.

Wenn auch die kleine Leserin am Ende des Buches weint, ist das für Baltscheit nichts Schlechtes, im Gegenteil: „Tränen reinigen die Augen. Es gibt doch nichts Schöneres, als einen klaren frischen Blick auf die Welt.“

Gewiss, es geht auch um den Tod in diesem rührenden, von Wiebke Rauers mit wunderbaren Zeichnungen illustrierten Kinderbuch. „Aber es geht vor allem ums gelingende Leben“, sagt Baltscheit.

Der 50-Jährige schreibt und zeichnet in einem Dachgeschoss. Großer Schreibtisch, auf dem — ja, auch das muss sein — ein Formular für die Steuererklärung liegt. Eigentlich schalte er nie ganz ab von seiner Arbeit, sagt er. Er nehme überall Gedanken auf, verarbeite sie. „Ich brauche keine Muse, die mich küsst, in den Schubladen meines Computers sind so viele Ideen. Ich müsste zu viert sein, wir hätten von morgens bis abends zu tun.“

Regelmäßig tritt der vierfache Vater, für dessen Geschichten seine Kinder „sowohl Inspiration als auch Testpublikum“ sind, vor Schulklassen auf und verrät, wie eine Geschichte wächst. „Die Kinder nennen mir eine Figur, die ich dann an die Tafel male. Die Jungens wollen oft eine Maschine, einen Roboter, aber ein Tier ist viel besser. Und dann erfinden wir zusammen die Geschichte.“

Und was macht eine gute Geschichte aus? „Man braucht einen Helden, der Held hat ein Problem und die Lösung ist die Geschichte.“ Das Geschichtenerfinden, sagt er, fördere die Kreativität, und diese Kreativität lasse sich später auf anderes im Leben, auf die Lösung von Alltagsproblemen übertragen.

Was will Baltscheit mit seinen Geschichten erreichen? „Klar geht es auch um meinen Lebensunterhalt und den meiner Familie. „Aber“, so sagt er selbstbewusst, er wolle, wie auch ein Theaterregisseur „unvergessliche Erinnerungen schaffen und damit manchmal sogar Leben verändern“. Der Theaterbesucher oder Leser sei im besten Fall zuversichtlicher als vorher.

Ob er sich „Nur ein Tag“ allein ausgedacht hat — die Frage steht noch auf Paulas Interview-Zettel. Baltscheits Antwort ist selbst schon wieder eine Geschichte: „Ich war auf einer Party, und da hat mir die Mutter eines damals etwa elfjährigen Mädchens erzählt, dass dieses sich eine tolle Geschichte ausgedacht habe. Eben die vom Wildschwein, vom Fuchs und von der Eintagsfliege. Der Plot hat mich so begeistert, dass ich gefragt habe, ob ich daraus ’was machen dürfte. Ich durfte.“

Alles, was dann um die Geschichte herumgesponnen wurde, mit klugen Gedanken wie zum Beispiel „Babys werden groß, Erwachsene werden kleinlich“, kam dann aus seinem Kopf. Oder, wie Baltscheit sagt: „Ich muss das aus meinem Kopf abschreiben.“ Das Mädchen, das sich die Geschichte einst ausdachte, ist im Buch erwähnt — nach einer Idee von Anna Gabbert steht auf der ersten Seite. Und er überweist ihr einmal jährlich als Dankeschön einen Obolus.

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