Warum Innereien ein Comeback verdienen

Im Supermarkt sind Steak und Hühnerbrust gefragt. In Delikatessrestaurants sind dagegen Herz und Euter wieder in.

Die Gäste im Restaurant „Herz&Niere“ probieren rosa gebratene Schweineleber und Entenleber-Paté. Das Restaurant in Berlin hat es sich zur Aufgabe gemacht,die verpönte Innereienküche neu zu interpretieren. Foto: dpa

Die Gäste im Restaurant „Herz&Niere“ probieren rosa gebratene Schweineleber und Entenleber-Paté. Das Restaurant in Berlin hat es sich zur Aufgabe gemacht,die verpönte Innereienküche neu zu interpretieren. Foto: dpa

Foto: Sina Schuldt

Berlin. Einsteiger essen das Herz. Das sagt jemand, der sich mit inneren Werten von Schwein, Rind und Lamm auskennt: Christoph Hauser ist Koch des Restaurants „Herz&Niere“ in Berlin-Kreuzberg. „Herzen sind reines Muskelfleisch. Sie schmecken immer noch nach dem Tier, von dem sie kommen, aber die Konsistenz erinnert nicht an Innereien.“

Statt nur Filetsteak oder Hähnchenbrust kommen bei Hauser auch Teile von Tieren auf den Teller, die die meisten Deutschen nur aus dem Biologieunterricht kennen. „Anspruchsvoller sind Nieren. Sie haben einen sehr starken Eigengeschmack. Kalb-Euter schmecken sehr milchig. Das mögen nicht alle Gäste.“

Innereien haben sich zu einem neuen Foodtrend entwickelt. Das hat nicht nur damit zu tun, dass sie für viele ein Gastro-Experiment mit leichtem Nervenkitzel sind. Es geht auch um Nachhaltigkeit. „Die Menschen haben überhaupt keinen Bezug mehr zum ganzen Tier, weshalb auch keine Tiere mehr ganzheitlich gegessen werden“, sagt Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, die den Grünen nahesteht. Diese Wertschätzung für das ganze Tier sei verloren gegangen, „weil die Menschen dem Fleisch nur noch in Form von Packungen in der Kühltruhe im Supermarkt begegnen“.

Fleisch und Wurst gehören fest zur traditionellen deutschen Küche. Was gegessen wird, ist ist aber auch ein Barometer des Wohlstands der Gesellschaft. Gero Jentzsch vom Deutschen Fleischer-Verband erinnert daran, dass Innereien in der Not direkt nach dem Zweiten Weltkrieg häufig auf den Tisch kamen. Da sie auch damals als Essen für arme Leute galten, hätten ältere Generationen sie verschmäht, sobald sie wieder zu mehr Geld gekommen seien. Koteletts und Roastbeef seien Symbole des Wohlstands.

Die Gäste bei „Herz&Niere“ teilen sich in zwei Gruppen. Die Abenteuerlustigen und die Nostalgiker. Letztere sind ältere Menschen, die das Restaurant wie eine Zeitmaschine betreten. Sie kommen mit einer bestimmten Idee im Kopf und einer Sehnsucht nach einem bestimmten Geschmack im Mund. Die eine wünscht sich Kutteln nach Art der Großmutter, der andere einen Rinderzungen-Salat.

Das Konzept seines Lokals richtet sich an Abenteuerlustige — oft jüngere Fleischliebhaber. Für sie gibt es das Überraschungsmenü. Die kleinen Gerichte können alles Mögliche beinhalten. Hauser: „Wir versuchen, die Innereien-Küche modern zu interpretieren, schön auf den Teller zu präsentieren und die Gäste damit zu überzeugen.“

Sylvia ist heute die Älteste am Tisch. Ihr Blick verrät sowohl Aufregung als auch Skepsis. „Ich habe zum letzten Mal als Kind Innereien gegessen“, erzählt sie. Als der Kellner den Inhalt des Gerichts ansagt, bückt sich Sylvia über ihren Teller und macht die Augen weit auf. Herz und Niere - es war wohl mit Blick auf den Namen des Restaurants zu erwarten. Bei der ersten Gabel von dem „rosa Schweineherzen und gebratenen Schweinenieren mit Karotte, Karottencreme, Rübchen und roten Zwiebeln“ schüttelt sie den Kopf. Bei der zweiten Gabel kaut sie langsam. „Das ist sehr spannend. Es schmeckt sehr lecker. Ich könnte mich daran gewöhnen“, sagt sie.

„Die Entfremdung von dem, was ein Tier eigentlich alles an essbaren Teilen hat, ist so groß, dass letztlich die Menschen gar nicht mehr an die Geschmäcker gewöhnt sind“, sagt Stiftungsvorstand Unmüßig. Sie setzt große Hoffnungen in Spitzenköche, die Leber, Niere, Zungen oder Herzen als Delikatessen anbieten und so die alte traditionelle Küche mit einem Hauch Neuartigkeit auf den Tisch wieder bringen.

Michael Rickert ist Tierarzt für Lebensmittelsicherheit und im Bundesverband praktizierender Tierärzte. Er fährt von einem Schlachthof zum nächsten, überprüft den Gesundheitszustand der lebenden Tiere vor der Schlachtung und erteilt die Genehmigung zum Verzehr. „Das moderne Schlachthof-System, was wir haben, bietet ein Höchstmaß an Lebensmittelsicherheit.“ Er wünscht sich Respekt vor Tieren: „Wenn schon getötet wird, dann muss auch alles gegessen und alles verwertet werden. Man sollte den Teller leer essen. Das setzt voraus, nur so viel auf den Teller zu nehmen wie man braucht.“

Dem Bundesverband der Fleischwarenindustrie zufolge aß ein Bundesbürger im vergangenen Jahr durchschnittlich 59,7 Kilogramm Fleisch. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt aus gesundheitlichen Gründen, nur halb so viel zu essen. Bei der Heinrich-Böll-Stiftung denkt man aber weiter, nicht nur aus gesundheitlichen Gründen, auch aus sozialen und ökologischen. Die weltweiten Soja- und Maiskulturen, die großteils für Tierfutter angebaut werden, nehmen eine Fläche so groß wie Deutschland ein.

Zudem landen die hier ungewollten Fleischstücke etwa von Hühnern oft im Export, was zum Beispiel in Afrika unselige Auswirkungen hat, sagt Unmüßig. „Wir zerstören die Lebensgrundlagen, vor allem von Frauen, in Ländern der Dritten Welt, die einfach mit ihren Hühnern nicht mehr konkurrenzfähig sind gegenüber den massiven, billig abgesetzten importierten Teilen aus unserer Produktion.“

Wenn jeder Fleischesser nicht nur die sogenannten Edelstücke, sondern auch die Innereien verzehren würde, dann würde dies die Überproduktion bedeutend senken.

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