Vor 80 Jahren Münchener Abkommen - Der Westen verrät sich an Hitler

München/Berlin · Mit dem „Münchner Abkommen“ wollten England und Frankreich sich Frieden von Hitler erkaufen. Sie verrieten die einzige Demokratie des Balkans und gaben den Nazis freie Hand zur Ermordung der Juden.

Der britische Premierminister Neville Chamberlain, Frankreichs Ministerpräsident Édouard Daladier, Adolf Hitler und Italiens Diktator Benito Mussolini (von links) einigten sich in München darauf, das Sudetenland von der Tschechoslowakei abzutrennen.

Der britische Premierminister Neville Chamberlain, Frankreichs Ministerpräsident Édouard Daladier, Adolf Hitler und Italiens Diktator Benito Mussolini (von links) einigten sich in München darauf, das Sudetenland von der Tschechoslowakei abzutrennen.

Foto: picture-alliance/ dpa/--

Der einzige britische Politiker, der wirklich begriff, was Premierminister Neville Chamberlain da in München in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938 unterschrieben und bei seiner Rückkehr stolz als „Frieden für unsere Zeit“ vor den Fotografen schwenkte, war Winston Churchill. Einen Tag vor der Abstimmung über das „Münchner Abkommen“ im Unterhaus hielt der seiner eigenen konservativen Fraktion innig verhasste Churchill am 5. Oktober eine vergebliche Wutrede, als deutsche Truppen bereits in das bis dahin tschechische Sudetenland einmarschiert waren – kampflos, wie bereits 1936 in das Rheinland und im März 1938 in Österreich.

Churchill: „Ein schrecklicher Meilenstein unserer Geschichte“

Das britische Volk solle die Wahrheit erfahren, polterte Churchill: „Es soll wissen, dass wir einen schrecklichen Meilenstein unserer Geschichte passiert haben und dass jetzt das furchtbare Urteil über die westlichen Demokratien gefällt worden ist: ,Gewogen, gewogen und zu leicht befunden.‘ Glauben Sie nicht, dass dies das Ende ist. Das ist erst der Beginn der Abrechnung, bloß der erste Schluck, bloß der erste Vorgeschmack des bitteren Trankes, der uns Jahr für Jahr vorgesetzt werden wird, es sei denn, dass wir in einer großartigen Wiedergewinnung unserer moralischen Gesundheit und kriegerischen Stärke von Neuem entstehen und mutig für die Freiheit einstehen, wie in der alten Zeit.“

„Hitler war der Gewinner, aber auch ein Verlierer der Konferenz“

Es tröstete Churchill keinen Tag, dass er vollständig recht behielt. Mit dem „Münchner Abkommen“ einigten sich der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler, der britische Premier Neville Chamberlain, der französische Ministerpräsident Édouard Daladier und der italienische Regierungschef Benito Mussolini, die Tschechoslowakei müsse das Sudetenland an das Deutsche Reich abtreten und binnen zehn Tagen räumen. „Hitler war der Gewinner, in anderer Hinsicht aber auch ein Verlierer der Konferenz“, schreibt der Historiker Heinrich August Winkler in seiner „Geschichte des Westens“.

Hitler: „Mit diesem Volk kann ich noch keinen Krieg führen“

Die Vermittlung des Abkommens durch Mussolini hinderte Hitler daran, die Wehrmacht sofort nach Prag vorstoßen zu lassen, die Tschechoslowakei als Staat zu zerschlagen und die Industriegebiete Böhmen und Mähren zu besetzen. Der Verbrecher an der deutschen Staatsspitze war tief enttäuscht, dass er den Krieg nicht bekam – und die Deutschen ihn auch nicht wollten. „,Mit diesem Volk kann ich noch keinen Krieg führen’, hatte Hitler selbst zugeben müssen, als er am Nachmittag des 26. September von einem Fenster der Reichskanzlei aus sah, wie teilnahmslos und bedrückt die Berliner auf den von ihm angeordneten Vorbeimarsch einer motorisierten Division reagierten“, schreibt Winkler.

Am gleichen Tag hielt Hitler im Berliner Sportpalast eine Rede, die den Überfall der Wehrmacht mit einer ersten Angriffswelle von 19 Divisionen vorbereiten sollte: „Und so bitte ich dich, mein deutsches Volk: Tritt jetzt hinter mich, Mann für Mann, Frau um Frau! In dieser Stunde wollen wir alle einen gemeinsamen Willen fassen. Er soll stärker sein als jede Not und als jede Gefahr. Und wenn dieser Wille stärker ist als Not und Gefahr, dann wird er Not und Gefahr einst brechen. Wir sind entschlossen!“

Durch das Abkommen entging Hitler einem Militär-Putsch

Als stattdessen auf Bitte Mussolinis die Mobilmachung verschoben und schließlich in zwei Tagen das Münchner Abkommen ausgehandelt wurde, brachen an der Spitze der Wehrmacht die Reste eines (wenig ausgereiften) Plans zur Befehlsverweigerung oder zum Staatsstreich zusammen. An der „September-Verschwörung“, die die Nazis erst nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 entdeckten, waren ab dem Sommer etliche Militärs vom Generalstabschef und dem Oberbefehlshaber des Heeres an abwärts sowie Diplomaten und Politiker beteiligt. Mit dem Abkommen und Hitlers (unfreiwilliger) Popularität als Wahrer des Friedens zerschlugen sich die Pläne der Putschisten.

Welche Folgen ein Kriegsbeginn 1938 gehabt hätte, gilt unter Historikern als offen. Die kommandierenden Generäle der Wehrmacht betrachteten Hitlers Pläne einhellig als Katastrophe. Die tschechische Armee war weit besser gerüstet als 1939 die polnische, die deutsche Wehrmacht wiederum noch keineswegs so stark gerüstet wie ein Jahr später. Und: Tschechischer Widerstand gegen das Abkommen hätte Großbritannien und Frankreich wohl zum Beistand gezwungen.

Tschechoslowakei büßte für Vertrauen in die Demokratien

So aber verrieten die westlichen Demokratien die einzige Demokratie auf dem Balkan, nachdem sie schon die spanische Republik nicht geschützt hatten. „Schweigend, trauernd, verlassen und gebrochen versinkt die Tschechoslowakei in der Dunkelheit. Sie hat in jeder Weise dafür büßen müssen, dass sie sich den Demokratien des Westens und dem Völkerbund anschloss, dem sie stets treu gedient hat“, so Churchill in seiner Wutrede vor dem Unterhaus. Stalin schloss aus dem westlichen Verrat an seinem Vertragspartner, dass die Sowjetunion sich selbst um ihr Verhältnis zu den faschistischen Ländern würde kümmern müssen.

Vor allem aber führt eine direkte Linie vom Münchner Abkommen zur Pogromnacht des 9. November. Nach München konnten die Nazis sich sicher sein, dass kein einziges Land militärisch gegen die Ermordung der Juden in Deutschland, Österreich und den besetzten Gebieten intervenieren würde. Bereits im Oktober brannten die ersten Synagogen im Sudetenland.

SS-Zeitung: 1933 hätte ein Krieg als Rache für Judenmord gedroht

Nach der Pogromnacht vom 9. November, in der rund 1500 Menschen ermordet und 400 Synagogen zerstört wurden, schrieb die SS-Zeitung „Das schwarze Korps“ ganz unverhohlen, solche Gewalt hätte man schon 1933 anwenden sollen, aber „damals wäre es den Juden vielleicht gelungen, die Völker in einen Rachekrieg gegen uns zu hetzen“. Nun könne man die Ausrottung planen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort