1300 Meter Kempen in Köln-Nippes

Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts trägt eine Straße in der Domstadt den Namen der Thomasstadt. Die WZ hat mit Menschen gesprochen, die dort leben und arbeiten.

Köln. Schon der Name ist ein Kuriosum: Ein „Worringer Bahnhof“, der mitten im Stadtteil Nippes steht? Das ist selbst für das für seine Narreteien berühmte Köln etwas Besonderes. Zudem wirkt die gewaltige Holzkonstruktion nicht wie ein Halt für Züge im Rheinland, sondern wie ein Saloon im Wilden Westen der USA. „Dabei sind seine Vorbilder in Russland zu finden“, erklärt Martin Schmitz, der sich mit der Geschichte des Bauwerks gut auskennt. „Stationen dieser Art wurden ursprünglich für die Transsibirische Eisenbahn errichtet.“

Der „Bahnhof“, der kein Bahnhof mehr ist, steht an der Kempener Straße. Sie verbindet die Neusser Straße mit dem Mauenheimer Gürtel und ist rund 1300 Meter lang. Mehrfamilienhäuser prägen das Bild. Ein Mittelstreifen trennt die beiden Fahrtrichtungen. Es gibt jeweils zwei Fahrspuren. Laut dem „Kölner Straßennamen-Lexikon“ trägt die Straße bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts den Namen der rund 70 Kilometer entfernten Thomasstadt. „Ich weiß, dass Kempen ein Städtchen am Niederrhein ist, war aber leider noch nie da“, sagt Schmitz. Er bezeichnet die Straße als „Mittelding“: Sie sei zwar keine Nebenstraße, aber auch keine echte Verkehrsachse wie beispielsweise die ,Venloer’. Doch „zu ihrer Linken und Rechten liegt das lebendige Nippes“.

Die WZ hat sich einen Vormittag lang an der Straße umgesehen und mit Menschen gesprochen, die hier leben und arbeiten. Wie Martin Schmitz, dessen Bürostuhl seit mehr als 25 Jahren im wohl ungewöhnlichsten Gebäude des Viertels steht. Er war aktiv daran beteiligt, dass der ehemalige Bahnhof an der Strecke Köln-Neuss-Krefeld nach der Demontage in Worringen an neuer Stelle wieder aufgebaut wurde.

Der eigens gegründete Verein Zug um Zug, dessen Geschäftsführer der 61-Jährige heute ist, sorgte in den 80er Jahren dafür, dass das historische Zeugnis nicht völlig verschwand. Denn in Worringen musste der Bau aus dem 19. Jahrhundert den neuen Schienensträngen der S-Bahn weichen. Mit Unterstützung der evangelischen Kirche und den helfenden Händen zahlreicher Arbeitsloser wurde das Denkmal gerettet.

Doch auch nach dem spektakulären Umzug blieb der Verein bestehen. Von seiner Verwaltungszentrale an der Kempener Straße 135 und weiteren Standorten aus, kümmern sich seine 125 Mitarbeiter um Projekte in den Bereichen Qualifizierung für den Arbeitsmarkt und Beschäftigung. Die Kirche ist weiterhin mit im Boot. Ihr gehört das Gebäude, das in Erinnerung an einen Pfarrer, Freund und Förderer auch Helmut-Ruhrberg-Haus heißt.

Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, hat Inge Klein ein neues Zuhause gefunden. Die 88-Jährige lebt seit mehr als zwei Jahren in der Hausgemeinschaft St. Augustinus, einer Einrichtung der Cellitinnen-Stiftung. Direkt dahinter liegt das St. Vinzenz-Hospital, dessen Postanschrift allerdings Merheimer Straße 221-223 lautet. Vor ihrem Umzug hat Inge Klein nur etwa 500 Meter entfernt gewohnt. „Ich kenne die Kempener Straße seit meiner Kindheit“, sagt die Seniorin. „Ich erinnere mich, wie ich sie an der Hand meiner Eltern entlanggegangen bin.“ Eine ihrer Mitbewohnerinnen, die einige Jahre älter sei, habe ihr mal erzählt, dass man in den 20er Jahren noch gefahrlos auf der Straße habe spielen können.

Inge Klein fühlt sich wohl an dieser Adresse — auch wenn sie mit Kempen nicht viel verbindet. Von ihrem Fenster aus kann sie auf die Straße sehen. Und wenn es ihre Gesundheit und die Witterung erlauben, ist sie im Viertel unterwegs. „Bei schönem Wetter schnappe ich mir meinen Rollator und ziehe los“, sagt die 88-Jährige.

Wer von dem ehemaligen Klostergelände der Vinzentinerinnen auf der linken Seite in Richtung Neusser Straße geht, kommt an der Bar von Hans Langnickel vorbei. Der schummrige Raum im Haus Nummer 68, dekoriert mit Kino-Postern und Fotos aus alten Filmen, bietet abends etwa 35 Gästen Platz — Barhocker inklusive.

„Ich hatte schon immer ein Faible für Cocktails“, erzählt der 68-Jährige, der die „Barfly“ seit 15 Jahren betreibt: Als eines Tages das Ladenlokal frei wurde, griff er gleich zu. Die Gäste kämen zu 80 Prozent aus der unmittelbaren Nachbarschaft. „Die Kempener Straße hat ein sehr gemischtes Publikum“, sagt der Barkeeper mit Blick auf die vertretenen Generationen und Berufe.

Die Stammgäste wissen nicht nur die Drinks zu schätzen. Sie hören auch gerne die Geschichten über die Entstehung des jeweiligen Cocktails. Ob diese wahr sind oder nicht, spielt für Hans Langnickel keine große Rolle. „Unser Schutzpatron ist Käpt’n Blaubär“, sagt er augenzwinkernd. Und tatsächlich steht ein Puppe des knuffigen Lügen-Bärs zwischen den vielen Flaschen mit Hochprozentigem im Regal.

Auch der gebürtige Bergheimer Langnickel war noch nie in Kempen. Nach dem Besuch der WZ hat er sich aber fest vorgenommen, mal einen Wochenendausflug an den Niederrhein zu unternehmen.

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