Kunstvermittlung Mit Kunst Demenzkranke im Leben halten

Das Wilhelm Lehmbruck Museum hat spezielle Führungen entwickelt.

Foto: Evelyn Hügli

Duisburg. Zaghaft berührt die Frau das Tuch, das sich in hohem Bogen über einem gut ein Meter hohen, undefinierbaren Korpus wölbt. „Ich glaube, da ist eine Person darunter“, vermutet sie. „Und was meinen Sie?“, fragt Sybille Kastner in die Runde aus zirka zehn Senioren, die an diesem Dienstagnachmittag ins Wilhelm Lehmbruck Museum gekommen sind, um dort von der Kunstvermittlerin durch die Sammlung geleitet zu werden.

Foto: Sybille Kastner

Weil sich die Führung an Menschen mit Demenz richtet, wurde die „Große sitzende Frau“ der Künstlerin Barbara Haengers unter einem Tuch versteckt, damit jeder seinen eigenen Zugang zu der aus Bronze gegossenen Skulptur finden kann. Es geht dabei nicht um richtig oder falsch, wohl aber um die aktive Teilnahme. Ein Plan, der aufgeht - wie das lebhafte Rätseln um den Vogel, den Rennsattel, den Stuhl oder eben die Frau unter dem Tuch zeigt.

Seit neun Jahren bietet Sybille Kastner Museumsführungen für Demenzkranke im Lehmbruck Museum an. Anfänglich noch von Vorurteilen ob der Befürchtung begleitet, die Demenzkranken vorzuführen, ist das Angebot mittlerweile Vorbild für andere Museen geworden. Nicht zuletzt weil die Klientel wächst. „Es geht darum, die Menschen solange wie möglich im Leben zu halten — durch Musik, Sport und eben Kunst“, erklärt die 51-Jährige. Mit im Boot ist von Anfang an ihre Kollegin Friederike Winkler, die den Anstoß gegeben hatte, indem sie mit ihrer im Heim lebenden, an Demenz erkrankten Mutter ins Museum ging.

Die Kolleginnen entwickelten ihr Konzept zunächst empirisch nach dem Motto „Versuch und Fehler“ und leisteten Pionierarbeit, „nur das Museum of Modern Art in New York war damals auch an dem Thema dran“, lächelt Kastner, „aber das wussten wir nicht“.

Um eine theoretische Untermauerung zu erhalten, nahm Kastner zur Medical School in Hamburg Kontakt auf. Die entwickelte im Rahmen eines Forschungsprojekts von 2012 bis 2015 ein Modell, das mit Hilfe der Kunstvermittler an elf Museen in Deutschland evaluiert wurde. Seit April liegt der Forschungsbericht in Buchform vor. Außerdem bieten die Duisburger Kunstvermittlerinnen Schulungen an und sind als Kennerinnen der Demenzszene auch beteiligt, wenn die Ruhrkunstmuseen Angebote für Demenzkranke erarbeiten. Gefördert von der EU wird schließlich ein Netzwerk mit Italien, Irland, Litauen und Deutschland geknüpft.

Wenn Sybille Kastner über ihre Erfahrungen spricht, kommt sie in Schwärmen: „Menschen mit Demenz denken nicht lange nach. Sie haben keine Konventionen im Kopf. Die Skulpturen regen sie sehr an.“

Das wird auch deutlich, als die Besuchergruppe Johannes Brus’ Skulpturengruppe „Tanzen für Brancusi“ erreicht, die derzeit im Museum ausgestellt wird. „Welche der drei Grazien würden Sie zum Tanzen auffordern?“, fragt Kastner und deutet auf die steinernen, Figuren hinter sich. Als Antwort erhält sie eine Tanzaufforderung, der sie gerne nachkommt. Bei den Senioren werden derweil Erinnerungen an frühere Tanzerlebnisse wach.

Wilhelm Lehmbrucks „Mutter und Kind“ schließlich löst eine Diskussion darüber aus, wie ein Baby sicher zu halten ist. Während der noch kinderlose Künstler 1907 eine idealisierte Frau schuf, die in graziöser Pose das Kind in einem Arm hält, machen sich vor allem die (Groß-)Mütter für die Variante mit zwei Armen stark, „damit das Baby nicht irgendwann runterrutscht“. Womit man beim Thema Kinder und Enkel angekommen ist, zu dem jeder etwas beizutragen hat.

Und so steht fest, dass an diesem Nachmittag wirklich alle mitten im Leben sind.