Helmut Schmidt: "Wir sehen China ganz falsch"

Interview: 15 mal besuchte der Altbundeskanzler China. Im Gespräch mit unserer Zeitung warnt er davor, das Riesenreich an den Maßstäben westlicher Erwartung zu messen. Eine "Demokratisierung" nach amerikanischem Vorbild schließt der Chinakenner aus. Das Land werde seinen eigenen Weg gehen.

Herr Bundeskanzler, beim Hören Ihrer Äußerungen sowie beim LesenIhrer Texte über China habe ich neben dem Eindruck, dass Sie mit größterSorgfalt die dortigen Entwicklungen zu beschreiben versuchen, auch das Gefühl,da sei eine große Leidenschaft für China.
Schmidt:
NichtLeidenschaft, sondern Neugierde.

Woher kommt die?
Schmidt:
In der Weltgeschichte gab eseine Reihe von Hochkulturen. Zum Beispiel im heutigen Iran und Irak, früher dasfruchtbare Mesopotamien und noch früher Zweistromland genannt. Ich denke zudeman die Hochkulturen der Inkas, Tolteken und Azteken in Südamerika und auch andie in Indien und Ägypten.

Die chinesische Hochkultur ist zwischen 4000 und 5000 Jahre alt, und dasBesondere an ihr, sie lebt immer noch, obwohl sie uralt ist. Warum ist das so?Und wieso sind alle anderen untergegangen? Das ist der Gegenstand meinerNeugierde.

Die chinesische existiert immer noch, obwohl sie das nicht hat, waswir für den größten Fortschritt der Menschheit halten, nämlichDemokratie.
Schmidt:
Nun hatten alle anderen, die ich vorhin nannte,auch keine. Keine von denen war eine Demokratie.

In Gesprächen über andere Länder heben Sie stets den Wert derNichteinmischung in deren inneren Angelegenheiten hervor.
Schmidt:
Ja, die Nichteinmischung ist ein Begriff aus dem Völkerrecht. Ich warne davor,sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen. Das gilt nichtnur für China, sondern genauso gut für den ehemaligen Staat Jugoslawien, fürKolumbien, Venezuela. Ja, das gilt für jeden Staat der Welt.

Nun kommt Ihre Neugierde, die Sie für sich geltend machen, dochnicht aus dem Nichts.
Schmidt:
Der liebe Gott hat mich wohl mitdieser Neugierde ausgestattet. Außerdem ist das heutige China, sagen wir dasChina aus der zweiten Hälfte des 20. und das China zu Beginn des 21.Jahrhunderts, so wahnsinnig interessant, weil es sich um ein gigantischesExperiment handelt.

Solange Mao lebte, hat er eine Reihe waghalsiger Experimente durchgeführtund dabei schwere Fehler begangen. Zum Beispiel hat sein Großer Sprung nach vornin den 1950er Jahren Millionen Hungertote gefordert. Man weiß nicht genau, wieviele dabei umgekommen sind.

Möglicherweise eine zweistellige Millionenziffer. Schließlich hat auch dasandere gigantische Experiment, nämlich seine sogenannte ProletarischeKulturrevolution, Tausende Tote gekostet. Sie alle sind umgebracht worden. Erselbst starb 1976, und wenige Jahre darauf gelangte mit Deng Xiaoping jemand andie Spitze, der ein neues Experiment mit bisher glänzendem Erfolg wagte.

Bis auf ein paar ostasiatische Ausnahmen wie Hongkong, Taiwan, Singapur undSüdkorea ist der so nachhaltige, nun schon seit einem Vierteljahrhundertanhaltende ökonomische Aufschwung mit Zuwachsraten von realen 8, 9 oder 10Prozent einzigartig auf der Welt. Herauszufinden, wieso den Chinesen diesesWunder gelingt, ist ungeheuer spannend.

Haben Sie eine Antwort?
Schmidt:
Wenn ich einehätte, so hätte ich mich wohl nicht so lange mit China befasst. Zudem kann manes auch nicht in einem Satz zusammenfassen.

Da wirken zu viele Faktoren zusammen. Was die Amerikaner und diemeisten Europäer überhaupt nicht verstehen, ist der von der kommunistischenPartei nicht nur vor der Welt, sondern auch vor sich selbst geleugnete Umstand,dass das ohne den vorausgegangenen, anderthalb Jahrtausend alten Konfuzianismusnicht so erfolgreich funktionieren würde.

Das weiß niemand in Europa, und das weiß auch niemand inAmerika. Sie haben auch keine Kenntnis davon, dass Konfuzius zur gleichen Zeitwie Aristoteles, Plato oder Perikles gelebt hat. Ein halbes Jahrhundert vorJesus Christus.

Sie wissen auch nichts von der bis ans Ende des europäischenMittelalters dauernden technologischen Überlegenheit der Chinesen gegenüber denEuropäern. Sie hatten längst das Schießpulver. Sie hatten Bücher, gedruckt mitbeweglichen Lettern. Lange vor Gutenberg. Sie verfügten längst über denMagnetkompass sowie über Raketen.

Sie besaßen längst Kanonen und fuhren längst Segelschiffe, diezwanzig Mal so groß waren wie die Schiffe von Kolumbus. Den Europäern ist auchnicht bekannt, dass die Chinesen vor einem halben Jahrtausend qualifiziertereIngenieure und bessere Wissenschaftler als wir Europäer waren.

Und sie verstehen auch nicht, dass die jetzigen chinesischenAufschwünge ohne den historischen Hintergrund und ohne das kulturelle Erbe kaumvorstellbar wären. Ich habe das alles jetzt nicht gesagt - das füge ichvorsichtshalber hinzu -, um die gegenwärtige kommunistische Führung in China inSchutz zu nehmen oder um die politischen Verhältnisse schön zu malen. In dem vonmir bisher Geäußerten steckt einstweilen noch keine Bewertung.

Gehen Sie davon aus, dass der zu Maos Zeitenverbotene Konfuzianismus gleichwohl unter Mao wirksam war?
Schmidt:
Konfuzius war für ihn Anathema. Um deutlich zu machen, was ich meine, will ichIhnen eine kleine Geschichte erzählen, die ich irgendwo aufgeschrieben habe.Nach meiner Erinnerung spielt sie im Jahre 1984. Ich unterhalte mich in Pekingprivat und unter vier Augen mit Deng Xiaoping, der damals bis auf den Vorsitzdes Militärkomitees kein großes Staatsamt mehr bekleidet.

Gleichwohl ist er der unangefochtene politische Führer.Miteinander über die chinesische Geschichte und die Gegenwart redend, sage ichzu ihm, um ihn ein bisschen zu ärgern, halb ironisch, halb im Ernst: "Eigentlichhabt Ihr euch doch einen ganz falschen Namen gegeben. Ihr nennt EuchKommunistische Partei, dabei müsstet Ihr in Wirklichkeit Konfuzianische Parteiheißen." Einen Augenblick stutzend, sagt er nach einer Weile: "So what!" AufDeutsch: "Was hast du dagegen!"

Dazu wüsste ich gerne mehr. Warum nahmen Sie dasan?
Schmidt:
Eigentlich bezog sich das nicht auf die gesamte Partei,sondern auf Deng. Ich sagte ihm, er sei weit weniger Kommunist als Konfuzianer.Das war ein ganz kluger Kerl. Ja, ein souveräner Kopf.

Ihm begegneten Sie zum ersten Mal bei Ihrem erstenund einzigen Besuch bei Mao.
Schmidt:
Ja, da lebte Mao noch.

Hatten Sie, obwohl Sie gegen sein striktes Systemwaren, Sympathien für Mao?
Schmidt:
Ich bin nicht gegen das SystemMaos. Ich bin ein Europäer. Warum soll ich gegen Mao sein? Ich war gegen dieverrückten Maoisten in Deutschland, die nichts von Mao wussten, sondern nur dieüberwältigenden Bilder von den Massenbewegungen aus dem Fernsehen kannten. Wassie glaubten, was Maoismus sei, war etwas vollkommen anderes. Es hatte wederetwas mit Mao noch mit seinem System zu tun.

Wie beurteilen Sie aus heutiger Sicht die Zeit vonMao?
Schmidt:
Ich würde sie ähnlich beurteilen, wie die heutigenchinesischen Führer es in einem Privatgespräch tun. Wenn sie jemanden finden,der offen redet, so räumt er ein: "Mao hat große Fehler begangen. Aber 70Prozent waren richtig."

Bei meiner Einschätzung komme ich nicht auf 70 Prozent, sondernauf sehr viel weniger. Aber einiges war richtig. Zum Beispiel: Er hat entgegender kulturellen Tradition in China die Frauen befreit.

Frauen und Männer sind seitdem gleichberechtigt. Das ist eineLeistung angesichts einer viertausend Jahre alten kulturellen Tradition. Diezweite große Leistung ist die Wiederbegründung des chinesischen Staates, der1945 völlig am Boden war. Wer einigermaßen gerecht sein will, muss dieseErrungenschaften anerkennen. Daneben stehen schlimme Fehler und schlimme Sünden.

Aber Sie dürfen nicht den Fehler begehen, die heutigen FührerChinas mit Maoisten zu verwechseln. Damit haben sie nicht viel am Hut. Zwarthront Mao als Halbgott auf dem Sockel und wird nach wie vor verehrt. Abergleichzeitig ließen sie für Konfuzius einen Tempel bauen, in dem Millionen vonChinesen dem alten Konfuzius die Ehre erweisen.

Können Sie sich an die bei Ihrer ersten Reise nachChina angesichts dessen, was Sie dort sahen, hörten und rochen, ausgelöstenErstlingsgefühle erinnern?
Schmidt:
Nicht Gefühle, sondernNeugierde. Ich begriff relativ früh in den 1960er Jahren, dass China eines Tageswieder zu einer Weltmacht aufsteigen würde, die es ja schon einmal gewesen ist.Deswegen war ich schon als Bundestagsabgeordneter, also alsFraktionsvorsitzender bei den Sozis, neugierig darauf, was sich da tut undentwickelte. Als ich Ende 1969 Verteidigungsminister wurde, gewann ich noch mehrKlarheit darüber, dass China in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen würde.

Dennoch unterhielten wir immer noch keine diplomatischenBeziehungen. Weil mich zutiefst interessierte, was dort geschah, verordnete ichmir eine Dienstreise, die mich rund um China führte. Ich wollte mir diesesriesige Land von außen mit australischen, mit neuseeländischen, mitthailändischen, mit japanischen und mit koreanischen Augen anschauen. Wiederzurück in Deutschland, sagte ich zu meinem Bundeskanzler Willy Brandt, nicht imKabinett, wohl im privaten Gespräch: "Wir müssen diplomatische Beziehungenaufnehmen. Ich bin mir ganz sicher, China wird eine Weltmacht." Das hat ersieben Jahre vor den Amerikanern gemacht.

Woran machten Sie fest, dass China das Potential zueiner Großmacht hat?
Schmidt:
Sie können mir ein Loch in den Bauchfragen. Ich habe es nicht an irgendwelchen Indizien abgelesen. Es gab dafürkeine Beweise. Es war wohl die Intuition eines geschichtsbewussten undgeschichtserfahrenen Mannes. Ich war damals 50 Jahre alt, also nicht mehr ganzso jung, und ich hatte mein ganzes Leben lang gelesen.

Sie haben einmal gesagt, dass Deng Xiaoping einesTages als einer der wichtigsten Staatsmänner seiner Zeit in die Geschichteeingehen würde.
Schmidt:
Habe ich das gesagt? Ja, er wird als dererfolgreichste Kommunist in die Geschichte eingehen. So kann man es sagen.

Warum waren Sie von ihm soangetan?
Schmidt:
Er war nicht nur freundlich. Wenn er auch keinliebenswerter Mensch war, so hat er mir doch sehr imponiert. Aber er hat dieTian-An-Men-Krise, also die große Tragödie vom 4. Juni 1989 auf dem Platz desHimmlischen Friedens, zu verantworten, die viele hundert Tote kostete.

Jedoch ist das ein Ereignis, das der Westen nicht einmal imAnsatz versteht. In China ist die Wahrung des eigenen Gesichtes von ganzzentraler Bedeutung. Auch Sie, Herr Jocks, werden bei Ihren Besuchen in Chinabemerkt haben, dass man das Spiegelbild des einzelnen Menschen nicht beschädigendarf. Die Studentendemonstrationen hatten dort von Woche zu Woche angedauert.

Der damalige Generalsekretär der Partei Zhao Ziyang hatteversucht, sie zu überreden, und wollte es noch einmal versuchen. Doch ohneErfolg.

Und nun musste der Chef der Sowjetunion, der zum ersten Mal seitdem Bruch zwischen Chruschtschow und Mao auf Besuch nach China kam, wegen derDemonstrationen die sogenannte Halle des Volkes durch die Hintertür betreten.Ich betone, durch die Hintertür.

Das war für die chinesische Regierung unerträglich. Zuvor hattensie wochenlang die Demonstrationen ertragen. Aber dieser extreme Gesichtsverlustwar für sie nicht hinnehmbar. Hinzu kam, dass einige wildgewordene Studenten dieaufgefahrenen Soldaten tätlich angegriffen hatten, und die hatten, weil sieSoldaten waren, zurückgeschossen.

Wenn es keine Soldaten, sondern Polizeibeamte gewesen wären,hätten sie nicht sogleich geschossen, sondern mit Stöcken gedroht. Es gab aberkeine Polizei. So gibt es viele Faktoren, die in den westlichen Medien wederrichtig dargestellt noch von ihnen verstanden wurden, die diese Tragödieinsgesamt ausgelöst hatten.

Worauf Sie bewusst hinweisen, wenn Sie über dieChronik der blutigen Ereignisse reden, ist, dass diese Studentenunruhen nichtmit der Studentenrevolte im Westen vergleichbar sei, weil es primär nicht ummehr Freiheit ging.
Schmidt:
Das ist richtig. Aber natürlichspielten unter den Studenten vielerlei Strömungen eine Rolle. Denken Sie an denlegendären Mai 1968 in Paris mit den gravierenden Studentenunruhen auf denStraßen, die beinah zum Sturz von De Gaulle geführt hätten, oder denken Sie andie Auswüchse der Baader-Meinhof-Gruppe, die ja durchaus bereit war, andereihrer politischen Ziele wegen umzubringen.

So gab es auch in China einige Studenten, die gewaltbereitwaren. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich hat ja die 68erStudentenbewegung durchaus zu einer Reihe von Gewalttaten geführt. Diese imWesten mit staatlicher Gewalt gebrochene Gewaltbereitschaft darf nichtunterschlagen werden, wenn man über die Tragödie in China redet.

Im Westen endete das zwar nicht mit 800 oder 900 Toten wie inPeking. Nun weiß ich nicht, wie viel Tote es wirklich waren. Die Zahlen über dieToten sind in der westlichen Presse übertrieben worden. Die westlichenBotschafter, die ich 1990 in Peking darauf ansprach, haben alle nurgeschätzt.

Unter den Künstlern, die sich zur Tatzeit auf dem Platzdes Himmlischen Friedens aufhielten, waren bis auf einen alle wider Erwartensehr auskunftsfreudig. Sie erzählten so freimütig, dass ich mir filmreife Bildervon dem machen konnte, was dort passiert ist.
Schmidt:
Was haben sieIhnen erzählt?

Dass sie die Schüsse, die sie hörten, nicht alssolche, sondern als Freudensignale ihrer Mitstreiter zunächst identifizierthätten. Erst als sie sich dem Ort annäherten, von wo aus die Schüsse kamen,hätten sie realisiert, dass diese tödlich waren. Offensichtlich haben sie erstgar nicht in Erwägung gezogen oder mit einer Niederschlagung Ihrer Protestegerechnet. Ich vermute, dass sie nicht naiv waren, sondern darin Vertrauenhatten, dass die Partei keine Gewalt gegen sie anwendenwürde.
Schmidt:
Lebten die Jungs, mit denen Sie sich unterhielten,schon zu dem Zeitpunkt in Peking?

Ja.
Schmidt:
Sie müssen wissen, dieStaatseisenbahn setzte Sonderzüge ein, um sie von anderen Universitätsstädtennach Peking transportieren zu lassen. Zunächst war alles harmlos. Daran sehenSie, es ist alles viel komplizierter und komplexer, als es sich in den Augenoder Ohren des westlichen Zeitungslesers oder Fernsehzuschauers abgebildet hat.Es ist alles sehr seltsam.

Warum wird bis heute an einer so falschen wieeinseitigen und klischeehaften Rezeption der Entwicklung in Chinafestgehalten?
Schmidt:
Dieser vor allem von amerikanischen Medienausgehenden Rezeption liegt eine tief sitzende doppelte Abneigung zugrunde.Einmal gegen kommunistische Regime und außerdem gegen ein Land wie China, dasals unheimlich empfunden wird.

Warum?
Schmidt:
Weil, was man nichtkennt, unheimlich ist.

Sie gehen wohl kaum davon aus, dass China sich sodemokratisiert, wie wir es uns vorstellen?
Schmidt:
Es spricht nichtviel dafür, dass die chinesische Entwicklung nach amerikanischem oderwesteuropäischem Muster verläuft. Warum sollte sie auch?

Sie gehen offensichtlich davon aus, dass diechinesische Kultur sich klar von der unserigen unterscheidet und dieGesellschaft deshalb auch andere Wege als westliche einschlägt, ja einschlagenmuss.
Schmidt:
So ist es. Das kann jeder wissen, der sich damitnäher beschäftigt. Das muss ja nicht ich sagen.

Ich wollte auf die Vermutung hinaus, dass sich mitdieser speziellen Kultur vielleicht nur bestimmte Gesellschaftsformenvereinbaren lassen.
Schmidt:
Das habe ich weder geschrieben nochbehauptet. Ich sage nur, es wird anders sein. So, wie es in Rom anders als inAthen und dort wiederum anders als in Sparta war, so sind die Verhältnisse inPeking ebenfalls grundverschieden von denen in Washington, Berlin, London, Parisoder Rom. Man muss schon Amerikaner sein, um sich einzubilden, alles müsste nachamerikanischem Muster vonstatten gehen.

Woran liegt es, dass Bush sen. so extrem anders alsBush jun. auf China reagiert?
Schmidt:
Bush-Vater ist zehnmal klügerals sein Sohn. So etwas kommt vor. Das ist die ganze Erklärung. Bush-Junior hatdie Bühne der Weltpolitik in einem Augenblick betreten, da seine Kenntnisse vonder Welt beinah gleich Null waren.

Wenn Sie danach befragt werden, ob China eineExpansionspolitik betreibe, weisen Sie stets darauf hin, dass dieses Land einesolche so gut wie nie verfolgt habe.
Schmidt:
Ja, es gab ein paarkleine Ausnahmen. Aber im Prinzip ist das richtig.

Beruht die Nichtexpansionspolitik auf den Lehren desKonfuzianismus?
Schmidt:
Nein, das glaube ich nicht. Wohl aber hates mit der Bevölkerungsmasse zu tun. In Zeiten, wo die Völker in Europa 10, 12oder 15 Millionen stark waren, lebten in China viele Hundertmillionen. EineRiesenbevölkerung. Zur gleichen Zeit, da in Europa die Nationalstaatenentstanden, im Laufe der letzten tausend Jahre, also seit 1066 in England oderseit Ludwig I., haben sich bei uns in Europa gleichzeitig die Nationalsprachendifferenziert.

Jeder Staat eine andere Sprache. Zum Teil auch andere Schriften.Noch im 20. Jahrhundert gehörten Kroaten und Serben dem gleichen StaatJugoslawien an. Sie sprachen so, dass sie sich gegenseitig verstehen konnten,aber der eine konnte die Zeitung des anderen nicht lesen. Denn die serbische warin kyrillischen und die kroatische in lateinischen Buchstaben gesetzt.

In China dagegen existiert ein- und dieselbe Schrift fürHunderte von Millionen Menschen, auch wenn nicht alle lesen und schreibenkönnen. Und es war ein riesenhaftes Volk in einem riesenhaften Land mit innerenKämpfen zwischen Provinzfürsten, Könige genannt. Der Grund für die Zurückhaltungbei expansiven, gar imperialistischen Abenteuern oder Feldzügen liegtwahrscheinlich in der Größe dieses Volkes.

In jenen sagenhaften Jahrhunderten waren die Chinesen sich nichtnur ihrer Größe, sondern auch ihres kulturellen und zivilisatorischen Vorsprungsso bewusst, dass es ihrem Stolz widersprochen hätte, sich als Unterdrückeranderer Völker aufzuspielen. Ich rede von der Zeit bis 1500. Sie waren das Reichder Mitte. So lautet der uralte chinesische Slogan.

Und die anderen befanden sich in Ihren Augen am Rande. Ihnen alsChinesen genügte es, wenn diese ab und zu in ihre Hauptstadt kamen, ihren Kotaumachten, Geschenke brachten, Tribut zahlten und wieder heimfuhren. Sie ließensie am Leben in dem Bewusstsein, dass sie die Großen und die anderen ebenRanderscheinungen sind. Dieses nicht nur kulturelle Selbstbewusstsein trugwahrscheinlich ganz wesentlich dazu bei, dass sie keine imperialistische Politikmachten.

Ganz anders als die Römer und auch ganz anders als derathenische Seebund und andere Kulturen. Sogar die Ägypter versuchten, ihreHerrschaft bis nach Irak oder Persien auszudehnen. Die Chinesen haben es bis aufzwei kleine Ausnahmen nicht getan. Die eine liegt ein paar Jahrhunderte zurückund heißt Tibet, und die andere ist Ostturkestan. Ein Kennzeichen für dasBewusstsein der Überlegenheit ist der Umstand, dass sie fremde Eroberereingeschmolzen haben. Turkvölker, Tartaren, Mongolen, Mandschus. Die letzteDynastie, die 1912 durch die Revolution von Sun Yatsen beseitigt wurde, bestandaus Mandschus. Sie benahmen sich wie Chinesen von Geburt. Nach zwei oder dreiGenerationen waren sie eingeschmolzen.

Nun war China durchaus Gegenstand fremderEroberungen.
Schmidt:
Das ist richtig. Am schlimmsten im Laufe des19. Jahrhunderts während der beiden Opiumkriege und noch tragischer durch dieJapaner. Die erste Tragödie war der japanisch-chinesische Krieg, der 1895 mitder Niederlage der Chinesen endete, und die zweite die Besatzungszeit unter derHerrschaft der bis zum Ende des 2. Weltkrieges böse wütenden Japaner. In derZwischenzeit hatten die Europäer entlang der chinesischen Küste sogenannteKonzessionen, in Wirklichkeit Kolonien aufgemacht.

Darunter die Portugiesen, die Engländer, die Franzosen, undzuallerletzt nahmen sich die Deutschen Tsingtau. Das heißt: Im 19. Jahrhundertist China weltpolitisch im steilen Niedergang begriffen. Es kann sich nichtwehren und verliert gegen die Engländer, gegen die Franzosen und auch gegen dieJapaner. Wir sprachen vorhin von Maos Leistungen.

Obwohl er diese Situation geerbt hat, ist es ihm gelungen,wieder den Staat China zu errichten. Wäre ich ein Chinese, so würde auch ich ihndafür bewundern. Ich bin aber kein Chinese. Nein, dass sie imperialistischwaren, das kann man weiß Gott nicht behaupten. Da verhielten sie sich ganzanders als die allermeisten anderen größeren Reiche der Weltgeschichte.

Waren Sie nach 2003 noch einmal inChina?
Schmidt:
Ja, 2005. Ich war in den Jahren, nachdem ich keineRegierungsämter mehr inne hatte, dort relativ häufig mit einer gewissenRegelmäßigkeit alle zwei Jahre einmal, also insgesamt zwischen zwölf undfünfzehn Mal.

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