Michael Hagedorn fotografiert Menschen mit Demenz: „Ich hab’ Konfetti im Kopf“

Seine Bilder überraschen. Sie sind nicht traurig-tragisch, sondern kreativ und lebensfroh.

Düsseldorf. Es ist ein ebenso typischer wie besonderer Moment im Leben des Michael Hagedorn: Auf der Basler Fasnacht tätschelt Werner Leypoldt seinen Konfetti gesprenkelten Kopf und meint: „. . . und ich hab’ Konfetti im Kopf!“

Die beiden Männer feierten nicht nur zusammen, sie waren Freunde, und der eine war das Modell des anderen. Michael Hagedorn hat Werner Leypoldt immer wieder fotografiert, wie er im Alter anfing zu malen und „in anderthalb Jahren an die 200 Bilder schuf, auch wenn er manchmal am nächsten Tag nicht mehr wusste, was er gestern gemalt hatte“, erinnert sich Hagedorn. Denn Werner Leypoldt war dement: Er verlor langsam die Kontrolle über sein Denken und über sich selbst.

Der alte Herr ist mittlerweile gestorben. Sein Satz von der Basler Fasnacht aber lebt in der Kampagne „Konfetti im Kopf“ fort, mit der der Hamburger Michael Hagedorn (Jahrgang 1965) den Blick seiner Mitmenschen verändern will. Das Lebensthema des mehrfach ausgezeichneten Fotojournalisten ist der Mensch, insbesondere der alte und demente Mensch. Warum? Weil er „schon immer ein Faible für ältere Menschen hatte“ und die demografische Entwicklung die Auseinandersetzung mit dem Thema bedingt. „Wir brauchen eine andere, nicht mehr angstgesteuerte Art des Zusammenlebens.“

Hagedorns Fotos erzählen Geschichten von Menschen, sie wecken Emotionen und halten sie fest. Auch Werner Leypoldt lebt hier fort. Er sucht in den Wäldern um Lörrach nach Steinen und Hölzern, verwandelt sein gesamtes Haus hingebungsvoll in eine Galerie aus Skulpturen und Gemälden. Es ist eine bunte, eine beeindruckende und eine poetische Welt, die die Kamera eröffnet.

Michael Hagedorn begleitet Menschen mit Demenz über einen längeren Zeitraum. „Sie wissen, dass sie fotografiert werden, sagen und zeigen mir, was sie wollen. Sie wollen interagieren, flirten, tanzen, anfassen. Sie kokettieren mit der Kamera.“ Miteinander Spaß haben, musizieren und lachen: So entstehen die Situationen, die zu den gefühlvollen, bisweilen nachdenklichen Fotos führen.

Wie bei dem Berliner Alfred Redmann, der seine Nase in einen prachtvollen Fliederbusch taucht, um den Duft mit allen Sinnen aufzunehmen, und ein andermal etwas verloren neben seiner Modelleisenbahn sitzt, die er in früheren Tagen detailverliebt aufbaute und die ihn auch heute noch irgendwie magisch anzieht. Oder die Seniorenheim-Bewohnerin Maria Roßkopf aus Wolfratshausen, die sich als junge Mutter empfindet und erschöpft wie zufrieden auf einem orangefarbenen Sofa ausstreckt, vor sich den Kinderwagen mit ihrem „schlafenden Baby“.

„Ich habe großen Respekt vor den Menschen. Nach den Fototerminen wähle ich eine Anzahl Bilder aus, die ich den Betroffenen schicke. Ich habe noch nie erlebt, dass sie nicht einverstanden waren“, sagt Hagedorn. Im Gegenteil. Seine Fotos erweisen sich mitunter als Hilfe, als Therapie, weil sie den dementen Menschen nicht auf seine Krankheit reduzieren, sondern ihn als kreativen, lebensfrohen Zeitgenossen festhalten. „Seit ich Ihre Fotos gesehen habe, habe ich keine Angst mehr davor, dement zu werden“, vertraute ihm eine Dame aus Berlin an.

Auch Michael Hagedorn hatte vor allem traurig-tragische Bilder im Kopf, als er 2005 begann, sich mit dementen Menschen zu beschäftigen. Sein Anspruch: die ganze Wahrheit zu zeigen. Er recherchierte und suchte Einrichtungen auf, die außergewöhnliche Betreuungsangebote machen. Bereits bei seinem ersten Besuch wurde er eines Besseren belehrt. „Unsere Schubladen greifen zu kurz.“ Sicher traf er auch auf Traurigkeit, aber er entdeckte auch eine „bunte, facettenreiche Welt“. Eine Offenbarung.

„In der Regel assoziiert man mit Demenz einen völligen Verlust von Persönlichkeit und Lebensqualität. Im Laufe der Zeit traf ich allerdings viele Menschen mit Demenz, die ihr Leben durchaus zu genießen schienen“, sagt Hagedorn. Er wolle nicht idealisieren, aber mit seinem Denk- und Gefühlsansatz eine Gegenposition zum negativen Image beziehen.

Seine Fotodokumentation ist heute mit rund 40 000 Bildern die wohl umfangreichste der Welt. Daraus entstanden sind die Wanderausstellung „Demenz ist anders“ (bis 10. Juni in Neuss) und die Kampagne „Konfetti im Kopf“, die gerade in Hamburg mit Ausstellungen, Interaktion und prominenter Unterstützung das Thema buchstäblich in die Gesellschaft hineinträgt. Demenz ist auf dem besten Weg, kein Tabuthema mehr zu sein.

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