Brexit Das britische Parlament und die Brexit-Bombe

Guy Fawkes Day: Mit Feuerwerken und Fackelzügen feiern die Briten seit mehr als 400 Jahren die Vereitelung eines katholischen Sprengstoff-Anschlags auf Parlament und König am 5. November 1605. Diesmal löschte ein Gericht die Zündschnur.

Die Legende von Guy Fawkes ist in Großbritannien nach wie vor lebendig: Im Vergnügungspark York Dungeon wird die Geschichte mit Schauspielern nachgestellt.

Die Legende von Guy Fawkes ist in Großbritannien nach wie vor lebendig: Im Vergnügungspark York Dungeon wird die Geschichte mit Schauspielern nachgestellt.

Foto: Merlin Entertainments

London. Jedes Schulkind in England kennt den Gedicht-Anfang „Remember, remember the fifth of November“ (deutsch: erinnere dich, erinnere an den 5. November) und die Geschichte, die das Gedicht über Guy Fawkes und die „Pulververschwörung“ erzählt: Mit 36 Fässern Schießpulver wollten katholische Adelige am 5. November 1605 das gesamte Parlament und König James I. in die Luft jagen. Das Komplott wurde verraten, der Attentäter Guy Fawkes mit den Fässern in letzter Minute im Keller des Westminister-Palastes entdeckt und die Verschwörer grausam hingerichtet. Zur Erinnerung an den verhinderten Staatsstreich werden bis heute am 5. November Guy-Fawkes- Puppen verbrannt und Feuerwerke entzündet.

Die lebendige Erinnerung an die Rettung des Parlaments hätte der konservativen Premierministerin Theresa May Warnung genug sein können, den EU-Austritt ihres Landes nicht ohne die Beteiligung des Unterhauses als Alleingang ihrer Regierung zu betreiben. Mit seiner Entscheidung, die Zustimmung des Parlaments zur Voraussetzung für die Antragstellung zum Brexit in Brüssel zu machen, hat der High Court der Regierungschefin die Lunte aus der Hand genommen und sie daran erinnert, von wem in Großbritannien alle Macht ausgeht: nicht vom Volk und nicht von der Königin — sondern vom Parlament.

Mit dieser Sonderstellung der beiden Abgeordneten- Häuser unterscheidet sich das britische Rechtssystem, das bis heute ohne eine geschriebene Verfassung auskommt, von den meisten anderen parlamentarisch- repräsentativen Demokratien in Europa. Das Parlament — bestehend aus Oberhaus (Adel), Unterhaus (gewählte Abgeordnete) und der Königin (oder dem König) — ist spätestens seit der „Bill of Rights“ von 1689 der alles entscheidende Souverän der konstitutionellen Monarchie. Das Gesetz regelte die Rechte des Parlaments und beendete den rund acht Jahrzehnte währenden Dauer-Konflikt zwischen dem Parlament und den Königen aus dem Haus Stuart.

Schon 1604 hätte es für einen Sieg der katholischen Opposition, nicht mehr ausgereicht, allein den König zu töten, weshalb die Pulververschwörer 18 Monate Zeit auf die Planung des Attentats zur Ermordung des ganzen Parlaments verwandten. Der Konflikt mit dem Parlament kostete 1649 Charles I. in einem verheerenden Bürgerkrieg den Kopf. Rund ein Jahrzehnt kam England auch ohne König aus — aber nie wieder ohne Parlament.

Nirgends sonst in Europa kommt dem Parlament eine vergleichbare Stellung zu. Die Regierung ist in England immer die Regierung des Königs beziehungsweise der Königin und steht damit traditionell unter dem grundsätzlichen Verdacht der Tyrannei. Premierministerin May musste wissen, dass ihr Alleingang am Parlament vorbei einer gerichtlichen Überprüfung niemals standhalten würde. Daran dürfte auch die vollmundig angekündigte Berufung vor dem Supreme Court Anfang Januar nichts ändern.

Wie fremd die britische Parlamentarismus- Tradition kontinental- europäischen Vorstellungen vorkommt, ist auch daraus zu ersehen, dass die Kläger gegen den Brexit-Alleingang der Regierung teils Brexit- Befürworter sind. Der spanisch- stämmige Friseur Deir Dos Santos ließ über seinen Anwalt ausrichten, er habe mit seiner Klage keineswegs das Ergebnis des Referendums kippen wollen: „Tatsächlich habe ich für den Brexit gestimmt, und zwar aus dem einzigen Grund, dass ich wollte, dass die Macht von Europa an das britische Parlament zurückgegeben wird. Ich denke aber nicht, dass es danach richtig von der Regierung war, das Parlament zu umgehen und zu versuchen, mir meine Rechte wegzunehmen, ohne zuvor das Parlament anzuhören.“

Ganz ähnlich argumentierte die zweite Klägerin, die Investment- Managerin Gina Miller, die das Urteil so kommentierte: „Es war die richtige Entscheidung, weil es um die Souveränität des Parlaments ging. Es ging nicht um Gewinnen oder Verlieren. Es ging darum, was Recht ist. Und nun können wir mit rechtlicher Sicherheit weitermachen.“ Es gehe um jede Regierung und jeden Premierminister in der Zukunft, und darum, ob es ihnen möglich sein werde, den Menschen ihre Rechte zu nehmen, ohne das Parlament anzuhören: „Das ist keine Demokratie, das läuft auf Diktatur hinaus.“

„Gegenüber dem Parlament muss Transparenz und Verlässlichkeit in Sachen Brexit herrschen.“
Jeremy Corbyn, Labour-Chef, fordert die Regierung auf, ihre Brexit- Verhandlungspläne offenzulegen

Daher ist es tatsächlich unwahrscheinlich, dass das Parlament seine Macht und Mehrheit nun nutzt, um das Ergebnis des Referendums zu drehen und den Brexit abzuwenden. Für May und ihre in Teilen leicht exzentrische Regierung bedeutet das vor allem: Sie kann nicht weiter nach Gutdünken im Verborgenen an der Vorbereitung des Ausstiegs wursteln, sondern muss dem Parlament ihre Pläne darlegen. Labour-Chef Jeremy Corbyn forderte die Regierung entsprechend auf, ihre Verhandlungs- Pläne ohne weitere Verzögerung dem Parlament vorzulegen: „Gegenüber dem Parlament muss Transparenz und Verlässlichkeit in Sachen Brexit herrschen.“

Premierministerin Theresa May ließ am Freitag bereits vor einem Telefonat über den geplanten EU-Austritt mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker wissen, sie wolle an ihrem Zeitplan festhalten und Anfang März in Brüssel den Brexit offiziell einleiten. Juncker und die EU sind gut beraten, daran nicht zu glauben. Denn welche Bedingungen das britische Parlament der Regierung auferlegt, lässt sich noch gar nicht absehen. Auch dass Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) am Freitag seinen britischen Amtskollegen Boris Johnson bei dessen Antrittsbesuch in Berlin zur Eile mahnte, wird daran nichts ändern. „Eine Hängepartie bringt keiner Seite etwas“, so Steinmeier.

Johnson, ehemaliger Bürgermeister von London und einer der führenden Köpfe der Brexit-Kampagne, hatte vor dem Referendum im Juni im Trump-Stil mit erfundenen Zahlen und dreisten Lügen für den Ausstieg geworben. Der für seine Fettnapf-Treterei berüchtigte Außenminister hatte am Donnerstag bei einer Preisverleihung wieder einmal die Lacher auf seiner Seite, als er erklärte, die Regierung werde den Brexit zu einem „titanischen Erfolg“ machen. Bei dem Adjektiv „titanic“ dachten die Zuhörer jedoch mehr an ein untergehendes Schiff. Johnson, so der Verdacht, könnte versehentlich ein einziges Mal die Wahrheit gesagt haben.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort