Attentat stürzt Tunesien ins Chaos

Nach dem Mord an einem Politiker der Opposition eskaliert bei den regierenden Islamisten der Machtkampf.

Tunis. Blutflecken und Blumensträuße markieren jenen Ort, an dem der populäre tunesische Oppositionsführer Chokri Belaïd in der Hauptstadt Tunis erschossen wurde. Demonstrationen, Streiks und Unruhen erschüttern das Land auch am Tag, nachdem der 48-jährige Menschenrechtsanwalt umgekommen ist.

Die Bluttat stürzt Tunesien in eine tiefe Staatskrise samt Machtkampf in der von den Islamisten geführten Übergangsregierung: Ministerpräsident Hamadi Jebali ist von der Führung seiner Partei daran gehindert worden, eine überparteiliche Experten-Regierung zu formieren. Damit wollte er die wachsenden Spannungen im Land in den Griff bekommen.

Jebali, der als moderater Vertreter der Islamisten gilt, hatte Stunden nach dem Attentat im Fernsehen angekündigt, dass er eine neue Regierung bilden wolle „mit kompetenten Bürgern ohne politische Mitgliedschaft“.

Dieses bemerkenswerte Versprechen ging seinem Parteichef, dem Geistlichen Rached Ghannouchi, offenbar zu weit. Er ließ über einen Sprecher verkünden, dass Jebali „nicht die Meinung seiner Partei Ennahda berücksichtigt“ habe. Und: „Wir glauben, dass Tunesien jetzt eine politische Regierung braucht.“ Nun muss auch Jebali um sein Amt fürchten.

Europäische Diplomaten äußerten sich besorgt darüber, dass in Ennahda, welche im Herbst 2011 die ersten provisorischen Wahlen in Tunesien nach der Revolution gewonnen hatte, offenbar zunehmend radikale Strömungen die Oberhand gewinnen. „Die wachsende Zahl an politischen Gewalttaten durch extremistische Gruppen ist eine Gefahr für den politischen Wandel“, erklärte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton.

Das Attentat beschleunigte den Bruch der tunesischen Übergangsregierung. Jebalis kleinere Koalitionspartner, die linke Kongresspartei und die sozialdemokratische Partei Ettakatol, hatten bereits ihren Ausstieg angekündigt.

Staatspräsident Moncef Marzouki, Gründer der Kongresspartei, hatte gefordert, eine neue Regierung unter Einbindung der Opposition zu gründen, um eine weitere Spaltung der Gesellschaft zu vermeiden. Ennahda wurde vorgeworfen, immer mehr Schaltstellen in der Regierung mit religiösen Getreuen zu besetzen.

Der ermordete Oppositionelle Belaïd, Chef der „Bewegung demokratischer Patrioten“, hatte davor gewarnt, dass die Islamisten eine neue religiöse Diktatur errichten wollten. Und beklagt, dass Ennahda der Opposition mit gewalttätigen Milizen das Leben schwer mache. Belaïd galt als einer der schärfsten Kritiker der Islamisten. Am Mittwoch erwarteten ihn Killer vor seinem Haus. Seine Familie beschuldigte Ennahda-Chef Ghannouchi, hinter dem Attentat zu stecken, was dieser scharf zurückwies.

Ursprünglich sollte in Tunesien im Sommer eine neue Regierung gewählt werden. Doch die Verhandlungen über die Verfassung liegen auf Eis, nachdem vier große Oppositionsgruppen aus der verfassungsgebenden Versammlung ausgestiegen sind. Dort war es zum Streit gekommen, weil die Islamisten Werte des radikalen islamischen Scharia-Rechts zur Grundlage machen wollten. Und ohne Verfassung kann nicht gewählt werden.

Das Auswärtige Amt in Berlin rief Urlauber in Tunesien zur Vorsicht auf. Da mit Ausschreitungen gerechnet werden müsse, sollten Menschenansammlungen und öffentliche Plätze in Städten gemieden werden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort