Brexit 1.0 Als Großbritannien sich vom Festland trennte

London (dpa) — Geologisch hat sich Großbritannien schon lange vom Rest Europas verabschiedet: In einem zweistufigen Prozess, beginnend vermutlich vor rund 450.000 Jahren, öffnete sich die Straße von Dover — die engste Stelle im Ärmelkanal zwischen Großbritannien und dem Festland Europas.

Brexit 1.0: Als Großbritannien sich vom Festland trennte
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Das berichtet ein internationales Forscherteam im Fachmagazin „Nature Communications“. Die bis dato bestehende Landverbindung begann durch das Überlaufen großer Wassermassen aus dem südlichen Teil der Nordsee zu bröckeln. Einige Hunderttausend Jahre später brach die Verbindung infolge schwerer Überflutungen vollständig.

Vor etwa 450.000 Jahren waren große Teile der Nordhalbkugel von Eis bedeckt, auch die Nordsee zwischen Großbritannien und Skandivien war größtenteils gefroren. Im südlichen Teil der Nordsee entstand ein großer eiszeitlicher See, der aus Flüssen und Gletschern gespeist wurde. Der Wasserstand der Nordsee lag viel niedriger als heute.

Während dieser Zeit war der heutige Ärmelkanal eine trockene, von Flüssen durchzogene Landschaft. Dort, wo heute die Straße von Dover liegt, zog sich eine Landbrücke aus Kalkgestein von Großbritannien hinüber nach Frankreich. Sie fungierte wie ein Damm, der die Wassermassen des eiszeitlichen Sees vom unterhalb liegenden Ärmelkanal abhielt.

Dass ein Überlaufen dieses Sees die Trennung Großbritanniens vom Festland auslöste, nehmen viele Experten schon lange an. Aufgrund fehlender geophysikalischer Daten sei diese Theorie aber bislang nicht gesichert, schreibt das Team um Sanjeev Gupta vom Imperial College in London (Großbritannien). Sie werteten nun Daten von Sonar- und reflexionsseismischen Messungen aus, die eine Analyse der Strukturen im Untergrund ermöglichten. So ermittelten sie, wie die Landbrücke zwischen Großbritannien und Frankreich durchbrach und der Ärmelkanal sich öffnete.

Sie konzentrierten sich dabei zum einen auf das Fosse Dangeard, ein riesiges Flusstal am Kanalboden im Zentrum der Straße von Dover. Darin befinden sich mehrere, grubenförmige Vertiefungen. Sie sind mehrere Kilometer im Durchmesser und an die 100 Meter tief. Den Forschern zufolge entstanden sie, als Wasser des Sees in riesigen Wasserfällen über die Kante der Kreidebrücke lief und den darunterliegenden Felsboden erodierte. So vollzog sich der erste Schritt der Trennung Großbritanniens vom Festland.

Vermutlich einige Hunderttausend Jahre später kam es dann zum endgültigen Bruch, berichten die Forscher. Sie hatten eine zweite Struktur am Kanalgrund in der Straße von Dover analysiert, den sogenannten Lobourg Channel. Die Untersuchungen legen nahe, dass er infolge verheerender Überschwemmungen entstand.

„Wir wissen immer noch nicht sicher, was das Überlaufen des eiszeitlichen Sees verursacht hat“, erläutert Mitautorin Jenny Collier vom Imperial College. Möglicherweise seien Teile der damals das Land bedeckenden Eisschicht abgebrochen und in den See gestürzt. Die Brücke sei dann möglicherweise durch kleinere Erschütterungen in den Gesteinsschichten, die noch heute für die Region typisch sind, weiter geschwächt worden. „Das könnte den Kollaps der Kreidebrücke verursacht und die Megaflut ausgelöst haben, für die wir Beweise in unserer Studie gefunden haben.“

Erstautor Sanjeev Gupta ergänzt: „Das Zerbrechen der Landbrücke zwischen Dover und Calais war unzweifelhaft eines der bedeutendsten Ereignisse der britischen Geschichte, das unsere Identität als Inselnation bis heute geformt hat. Als mit dem Ende der Eiszeit der Wassespiegel stieg und den Talboden endgültig flutete, verlor Großbritannien seine physikalische Verbindung zum Kontinent. Ohne diesen dramatischen Durchbruch wäre Großbritannien noch heute ein Teil von Europa. Das ist Brexit 1.0 — der Brexit, für den Niemand gestimmt hat.“

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