Volksfeststimmung nach dem Putschversuch

Istanbul (dpa) - Auf dem Istanbuler Taksim-Platz laufen von Präsident Recep Tayyip Erdogan vorgetragene Gedichte vom Band. Hier und auf anderen Plätzen der Türkei sind Tausende versammelt, sie schwenken Flaggen und rufen „Gott ist groß“.

Volksfeststimmung nach dem Putschversuch
Foto: dpa

Es herrscht Volksfeststimmung - dabei warten die Menschen seit Stunden gebannt auf eine dramatische Entscheidung Erdogans. Wieder einmal wird er seinem Ruf gerecht, keine halben Sachen zu machen: Er verhängt über den Nato-Partner und EU-Beitrittskandidaten Türkei den Ausnahmezustand.

Dabei haben Erdogans Anhänger seit der Niederschlagung des Putsches den „Sieg über die Demokratie“ gefeiert. Erdogan sagt zwar in der Nacht zum Donnerstag, der Ausnahmezustand sei „definitiv nicht gegen Rechte und Freiheiten“ gerichtet. Doch die rechtliche Lage erlaubt nun, Grundrechte einzuschränken oder sie sogar auszusetzen. Kein Bürger habe etwas zu befürchten, es gehe um den Schutz der Menschen, beteuert der Präsident. Möglich sind nach dem Gesetz zum Ausnahmezustand auch Personen- und Hauskontrollen, Ausgangssperren und nicht zuletzt Medienzensur.

Vor allem aber kann Erdogan erst einmal fast unbeschränkt herrschen: Solange der auf zunächst drei Monate begrenzte Ausnahmezustand in der Türkei gilt, kann der Präsident weitgehend per Dekret regieren. Erdogan ist also so mächtig wie nie zuvor. Dabei haben nur fünf Tage zuvor Militärs versucht, ihn zu stürzen. Sein Sprecher Ibrahim Kalim sagt, Erdogan sei nur knapp dem Tod oder der Gefangennahme in seinem Hotel in Marmaris entgangen. „Es war wirklich eine Frage von vielleicht einer halben Stunde.“ Doch Erdogan entkommt und fliegt nach Istanbul - und schlägt seitdem gnadenlos zurück.

Der Präsident macht die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich. Erdogan ist für seine harte Hand bekannt, doch eine solche Welle von „Säuberungen“ hat die Nation in den mehr als 13 Jahren, die er an der Macht ist, noch nicht erlebt. Zehntausende werden suspendiert, Tausende festgenommen. Rundfunksender verlieren ihre Lizenzen, die Polizei ruft sogar in den Bildschirmen der Istanbuler Metro dazu auf, Verdächtige zu melden.

Erst am Dienstagabend reist Erdogan von seiner Heimatstadt Istanbul aus erstmals wieder nach Ankara. In der Hauptstadt leitet er am Mittwoch eine Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrates, sie dauert 4 Stunden und 40 Minuten. Danach steht eine Kabinettssitzung unter seinem Vorsitz an, die sich bis in die Nacht hinzieht. Schon die Abfolge der Sitzungen deutet darauf hin, was drohen könnte: Nach der Verfassung muss erst der Sicherheitsrat beraten, bevor das Kabinett den Ausnahmezustand ausrufen kann.

Der Abgeordnete Ziya Pir von der pro-kurdischen HDP begrüßt die Niederschlagung des Putsches. Der deutsch-türkische Parlamentarier spricht aber - noch vor der Verhängung des Ausnahmezustands - von einem „zivilen Gegenputsch“. Die „Säuberungen“ seien sehr gut vorbereitet gewesen. Pir kritisiert: „Diese Situation wird jetzt ausgenutzt, um unter dem Deckmantel der Komplizenschaft gegen alle Oppositionellen vorzugehen.“ Die Stimmung sei nach dem Putschversuch so aufgeheizt, dass sich HDP-Anhänger nicht mehr auf die Straße trauten. „Sie haben Angst, gelyncht zu werden.“

Ziel des Ausnahmezustands sei es, die Demokratie und den Rechtsstaat wiederherzustellen, sagte Erdogan - in den vergangenen Monaten ist die Türkei immer tiefer im Chaos versunken. Ob die Maßnahme die alarmierende Entwicklung stoppen kann? Nicht nur westliche Politiker dürften daran zweifeln, auch die Wirtschaft verliert das Vertrauen. Schon vor dem Ausnahmezustand stufte die Ratingagentur Standard & Poor's die Kreditwürdigkeit der Türkei, die bereits im Ramschbereich rangierte, noch einmal nach unten. Die türkische Lira stürzte ab.

Und die Instabilität der Türkei erfasst inzwischen sogar den Fußball. Nationalspieler Mario Gomez, gefeierter Stürmer bei Besiktas Istanbul, hat genug von seinem Ausflug an den Bosporus. Er kündigt an, die Türkei zu verlassen. In einer persönlichen Erklärung schreibt Gomez: „Der Grund dafür ist ausschließlich die politische Situation!“

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