Einigung nach Fast-Katastrophe Protokoll eines Nervenkriegs

Berlin/München (dpa) - Es ist 22.10 Uhr, die Sonne ist schon fast verschwunden über dem Konrad-Adenauer-Haus, als Horst Seehofer sich vor die Mikrofone stellt. Er hat nach der wochenlangen Krise zwischen CDU und CSU in der Asylpolitik nur eine recht kurze Botschaft für die Journalisten.

Einigung nach Fast-Katastrophe: Protokoll eines Nervenkriegs
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„Es hat sich wieder einmal gezeigt: Es lohnt sich, für eine Überzeugung zu kämpfen.“ Und er berichtet von einer klaren Übereinkunft, um illegale Migration an der deutsch-österreichischen Grenze künftig zu verhindern. Diese erlaube ihm, sein Amt als Bundesinnenminister weiterzuführen.

Die Erläuterung der Einzelheiten überlässt Seehofer den Generalsekretären von CDU und CSU. Nach eineinhalb Minuten steigt er in seinen Wagen. Abtritt Seehofer, Ende. Der vorerst letzte Akt in einem Drama, wie es die Bundesrepublik selten erlebt hat. Es ging um politische Geschwisterliebe, Glaubwürdigkeit und um nicht weniger als die Regierungsfähigkeit der großen Koalition.

Angela Merkel lässt sich beim Statement von Seehofer nicht blicken. Die Kanzlerin tritt wenige Minuten später alleine im Foyer des Adenauerhauses auf ihre eigene Bühne - und verkauft den erzielten Asylkompromiss ebenfalls als Sieg. Man habe „nach hartem Ringen und schwierigen Tagen“ einen „wirklich guten Kompromiss“ gefunden. Damit sei genau der Geist der Partnerschaft in der Europäischen Union gewahrt und gleichzeitig ein entscheidender Schritt getan, um Sekundärmigration zu ordnen und zu steuern. „Das ist genau das, was mir wichtig war und ist.“ Sekundärmigration, damit ist die Weiterreise von Asylbewerbern innerhalb der EU bezeichnet - also genau die Flüchtlinge, die Seehofer an der Grenze zurückweisen will.

Tagelang stand die Union am Abgrund. Seehofer pokert zuletzt mit seiner politischen Karriere. Mit seiner Rücktrittsankündigung schockt er die CDU ebenso wie die eigene Partei. „Ist das wirklich passiert, oder war das nur ein böser Traum“, fragt sich ein hochrangiges CSU-Mitglied am Montagmorgen.

Die Lage ist so ernst, dass sich sogar der Bundestagspräsident einschaltet. Überraschend kommen Merkel und Seehofer am Nachmittag für etwa eine Stunde im Büro von Wolfgang Schäuble (CDU) zusammen. Am Ende des Tages, heißt es, Schäuble sei vor allem durch die Rücktrittsankündigung Seehofers alarmiert gewesen. Er soll Merkel und Seehofer gleichermaßen ins Gewissen geredet haben, was es für die Parteienlandschaft bedeuten würde, sollte die Unionsgemeinschaft zerbrechen. Der Präsident war für die Mediatorenfunktion prädestiniert: Ihm wird ein guter Zugang zu den Vorstellungen von Merkel genauso wie von Seehofer nachgesagt.

Der CSU-Chef war zuvor direkt aus München gekommen - an der Fraktionssitzung am Nachmittag nimmt er bereits zum zweiten Mal hintereinander nicht teil. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt ist allerdings anwesend. Merkel gibt ihm die Hand, beide lächeln wie üblich. Doch als sich Merkel wie gewohnt auf ihren Platz vor die Kameraleute setzt, würdigt sie ihn keines Blickes mehr. Dobrindt gilt manchen in der CDU im Streit der Unionsschwestern als Scharfmacher.

Aber die Unionsabgeordneten drängen ihre Parteispitzen auf eine Einigung. Immer wieder wird der Wert der Fraktionsgemeinschaft betont, eine Geschichte von 70 Jahren, eine „Schicksalsgemeinschaft“. CDU-Vize und Agrarministerin Julia Klöckner äußert am Morgen schon ein gewisses Verständnis für das „Ansinnen“ der CSU.

Und dennoch stehen die Zeichen kurz vor dem Krisentreffen auf Krawall. Seehofer selbst richtet am Nachmittag noch einmal persönlich schwere Vorwürfe an Merkel. „Ich lasse mich nicht von einer Kanzlerin entlassen, die nur wegen mir Kanzlerin ist“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“. Er befinde sich in einer Situation, die für ihn „unvorstellbar“ sei: „Die Person, der ich in den Sattel verholfen habe, wirft mich raus.“

Gegen 17.40 Uhr schreitet der CSU-Chef dann ins Adenauerhaus. „Ich hoffe, dass es noch hell ist, wenn ich wiederkomm'“, sagt er zu den wartenden Journalisten. Am Ende schafft er es in den letzten Minuten der blauen Stunde, die Einigung zu verkünden.

Die Union setzt jetzt auf Transitzentren: Statt Asylbewerber, die schon in anderen EU-Staaten registriert sind, direkt an der Grenze abzuweisen, sollen sie wie an Flughäfen an den Grenzen in Transitzentren kommen, um von dort rasch in den jeweiligen EU-Staat zurückgeführt zu werden. Und für den Fall, dass sich Länder dem verweigern, wolle man ein Abkommen mit Österreich schließen.

Bei den Christdemokraten ist am Abend Erleichterung zu spüren. „Alle haben in den Abgrund geschaut“, heißt es in der CDU. Man sei haarscharf an einem Bruch mit der Schwesterpartei vorbeigeschrammt. Die Kanzlerin könne mit dem Ergebnis gut leben, weil das Vorgehen an der Grenze auf europäischer Ebene abgestimmt werde. Und das war in den vergangenen Wochen immer ihr Credo: Zurückweisungen dürften nicht im nationalen Alleingang geschehen.

Aber wie geht es weiter? Werden die Transitzentren in der Praxis funktionieren? Wie schnell wird die Umsetzung folgen? Wird das den Konflikt der Schwesterparteien endgültig lösen? Oder folgt die nächste Rebellion der CSU in nur wenigen Wochen? Schließlich wird am 14. Oktober in Bayern gewählt. Wie stark hat der Streit die Glaubwürdigkeit der Regierungsparteien beschädigt? Viele Fragen bleiben nach diesem Abend offen.

Bei dem heftigen Streit der Schwesterparteien geriet streckenweise fast in Vergessenheit, dass noch eine dritte Partei der Regierung angehört. Wie denkt die SPD über die Transitzentren? Die Sozialdemokraten hatten sich bereits 2015 gegen solche Zentren gewehrt. Im Anschluss an das Unionskrisentreffen kommen die Spitzen von CDU und CSU am späten Montagabend mit den SPD-Kollegen zusammen. In dem Streit hatte nicht nur die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU um Bundestag, sondern auch die große Koalition auf dem Spiel gestanden.

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