Wahlkampf auf Türkisch „Nazi-Praktiken“ und ein deutscher „Agent“

Istanbul (dpa) - „Reis“ läuft seit vergangenem Freitag in den türkischen Kinos. Der Titel des überall beworbenen Films heißt übersetzt „Anführer“, natürlich geht es um Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Wahlkampf auf Türkisch: „Nazi-Praktiken“ und ein deutscher „Agent“
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Genau genommen geht es um den jungen Erdogan, um seine Kindheit und um seinen Aufstieg zum Bürgermeister von Istanbul. Der Streifen - nach den Worten von Hauptdarsteller Reha Beyoglu „kein Propagandafilm“ - porträtiert Erdogan als gerechten, mitfühlenden, selbstlosen, hilfsbereiten, gottesfürchtigen, respektvollen und ruhigen Menschen.

Wenn es um Deutschland geht, ist Erdogan derzeit alles andere als ruhig, und ob Nazi-Vorwürfe respektvoll sind, ist auch fraglich. Schon in der Vergangenheit arbeitete sich Erdogan gerne an der Bundesrepublik ab, der er vorwirft, türkischen Terrorverdächtigen Schutz zu gewähren. Dann schien Deutschland eine Zeit lang wieder aus Erdogans Blickfeld zu geraten - bis Ende vergangener Woche. Seitdem greift er Deutschland - offiziell immerhin noch mit der Türkei befreundet - in nie da gewesener Härte an.

Am späten Freitagabend warf er der Bundesregierung vor, dem inzwischen inhaftierten deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel auf Botschaftsgelände Unterschlupf gewährt zu haben, statt ihn an die „unabhängige und unparteiische Justiz“ auszuliefern.

Im selben Atemzug nannte Erdogan - Unschuldsvermutung hin oder her - Yücel einen „deutschen Agenten“ und einen Vertreter der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Auch wenn der Spionage-Vorwurf zuvor noch gar nicht gegen Yücel erhoben worden war: Kaum ein Richter dürfte sich nun noch trauen, zu einem anderen Urteil als der Präsident zu kommen.

Am Sonntag meldete Erdogan sich dann erneut zu Wort. „Hey Deutschland“, rief der Präsident bei einer Veranstaltung. „Eure Praktiken unterscheiden sich nicht von den Nazi-Praktiken in der Vergangenheit.“ Gemeint ist der Streit um Wahlkampfauftritte türkischer Minister in der Bundesrepublik. Noch am Abend legte Erdogan nach, er nannte Yücel einen „Terroristen“ und sagte unter dem Beifall seiner Zuhörer: „Ich dachte, dass der Nationalsozialismus in Deutschland beendet ist. Dabei dauert er immer noch an.“

Zugleich drohte Erdogan, selbst ein Einreiseverbot für türkische Politiker, wie es in Deutschland derzeit diskutiert wird, würde ihn gegebenenfalls nicht stoppen: „Wenn ich will, dann komme ich auch.“ Mit Interesse dürften diese Haltung besonders jene Bundestagsabgeordneten zur Kenntnis nehmen, denen Ankara den Besuch deutscher Soldaten in Incirlik untersagt hat.

Dass im verbalen Konflikt mit Deutschland die Nazi-Keule - abgesehen vielleicht von einem direkten Hitler-Merkel-Vergleich - die höchste Eskalationsstufe ist, ist auch Erdogan und seinem Beraterstab klar. Dem Präsidenten scheint wenig zu kümmern, wie viel Porzellan in den bilateralen Beziehungen zu Bruch geht. Womöglich rechnet er damit, dass sich die Scherben wieder kitten lassen, wenn er am 16. April das Referendum über die Einführung des Präsidialsystems gewinnt.

Diesem Ziel eines Wahlsieges ordnet Erdogan derzeit alles unter - denn es könnte knapp werden. Eine Niederlage kann er sich aber kaum leisten. Dass seit 2014 der Staats- und nicht der Regierungschef das Sagen in der Türkei hat, sieht die Verfassung eigentlich nicht vor - weswegen sie nun per Volksabstimmung geändert werden soll. Sollte eine Mehrheit der Türkei dagegen stimmen, müsste Erdogan eigentlich die Rolle einnehmen, die die Verfassung vorsieht: Nämlich die eines zwar vom Volk gewählten, aber weitgehend zeremoniellen Präsidenten.

In seiner islamisch-konservativen AKP wird Erdogan zwar verehrt. Doch auch in der Partei sind nicht alle für ein System, das die Macht in der Hand einer einzigen Person konzentriert, die nach den Gesetzen der Natur nicht immer Erdogan wird sein können. Für einen Sieg braucht er die Nationalisten, unter denen es aber viele Gegner des Präsidialsystems gibt. Und er braucht die Stimmen der Auslandstürken, vor allem die der größten Gruppe, nämlich der in Deutschland.

Dass Erdogan den Streit mit Deutschland nun zum Wahlkampfthema gemacht hat, beschert ihm viel mehr Aufmerksamkeit als Auftritte seiner Minister. Als Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci nach einem Katz-und-Maus-Spiel doch noch einen Ort in Köln fand, an dem er sprechen durfte, kamen am Sonntag gerade einmal 300 Zuhörer. Erdogans Tiraden gegen Deutschland verfolgen am Fernseher Millionen Türken.

Mit seinen Angriffen trifft Erdogan den Nerv nationalistischer Türken, ob im eigenen Land oder in der Bundesrepublik. Jahrzehntelang haben die Türken in Deutschland ihre Interessen nirgendwo vertreten gesehen, weder in ihrer neuen noch in ihrer alten Heimat. Erdogan hat sich schließlich ihrer angenommen, und er hat ihnen den Stolz auf ihr Herkunftsland zurückgegeben - was zu den Gründen gehört, warum er in Deutschland überproportional viele Anhänger hat.

In einer Studie der Universität Münster sagte im vergangenen Jahr mehr als die Hälfte der befragten Türkischstämmigen, sie fühlten sich in Deutschland als „Bürger zweiter Klasse“. Auch Außenminister Mevlüt Cavusoglu bediente sich vergangene Woche dieses Bildes, als er den Deutschen ins Stammbuch schrieb: „Sie sind nicht erste Klasse und die Türkei zweite Klasse.“

Cavusoglu will nun am Mittwoch in Deutschland mit Bundesaußenminister Sigmar Gabriel zusammenkommen. Gabriel wird dabei den Fall Yücel ansprechen. Ziel ist auch, den Streit um die Wahlkampfauftritte zu entschärfen. Als die türkische Seite das Treffen verkündete, war noch nicht bekannt, dass Cavusoglu am Vorabend einen anderen Termin in Deutschland plant: einen Wahlkampfauftritt in Hamburg.

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