Kanzlerin angeschlagen? Merkel versucht beim EU-Gipfel „Business as usual“

Tallinn (dpa) - Das Titelbild des britischen Wirtschaftsmagazins „Economist“ bringt es auf den Punkt: Im hellen Lichtkegel am Mikrofon ein strahlender französischer Präsident Emmanuel Macron, dahinter im Schatten eine kleine, irgendwie bedröppelt dreinschauende Kanzlerin Angela Merkel.

Kanzlerin angeschlagen?: Merkel versucht beim EU-Gipfel „Business as usual“
Foto: dpa

„Der Scheinwerfer rückt von Deutschland nach Frankreich“, steht darunter. Ist das so? Beim EU-Sondergipfel in Tallinn, dem ersten internationalen Auftritt Merkels nach der Bundestagswahl, ist genau das die Frage.

Ist die Kanzlerin durch ihr schlechtes Ergebnis geschwächt, durch die schwierige Regierungsbildung mit FDP und Grünen sogar eine besondere Art der „lame duck“, der politisch lahmen Ente, die nicht mehr viel entscheiden kann? Beim Abendessen mit den Staats- und Regierungschefs dürfte sie sich über die vielen Glückwünsche zur faktischen Wiederwahl sehr gefreut haben.

Wahl gewonnen, vier weitere Jahre im Kanzleramt: So liest man die Fakten bei den EU-Partnern, und die meisten sind damit sehr zufrieden. „She will manage“, sagt die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite. Das kann man mit „Sie schafft das“ übersetzen.

Überhaupt das Abendessen. Macron und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dürfen noch einmal aus ihren Reden zitieren, dann ist Merkel dran. Die britische Premierministerin Theresa May hört aufmerksam zu, obwohl es sie eigentlich gar nichts mehr angeht, denn Thema ist die Zukunft der EU. Warum ist May überhaupt eingeladen? Die Esten hatten wohl an einen lockeren Abend gedacht, ohne Kontroversen, May sagte sofort zu. Aber dann wurde wegen der Dynamik der Ereignisse doch eine Grundsatzdiskussion nötig.

Es war schon ein bemerkenswerter Zeitplan: Zwei Tage nach der Wahl in Deutschland und zwei Tage vor dem Treffen in Tallinn legt Macron mit viel Pathos seinen Reformplan für Europa vor. Einen kompletten Umbau will er bis 2024, für die Eurozone einen eigenen Haushalt und einen Finanzminister, sogar eigene Steuern. In Deutschland sind das höchst umstrittene Forderungen, in Merkels Union ebenso wie beim potenziellen Koalitionspartner FDP.

Die Kanzlerin sagt direkt nach Macrons Rede erst einmal - gar nichts. Lediglich ihren Regierungssprecher Steffen Seibert lässt sie am Mittwoch „Elan und Leidenschaft“ des Franzosen loben. Einen weiteren Tag später, bei der Ankunft in der estnischen Hauptstadt, erscheint sie dann aber entschlossen, dem Franzosen nicht mehr alleine die Deutungshoheit über die Perspektiven Europas zu überlassen.

Nüchtern wie immer, aber mit deutlichen Worten, begrüßt sie Macrons Initiative, spricht von einem „großen Impuls“. Details allerdings, nun ja, die müssten natürlich geprüft werden. Danach entschwindet sie zu einem Treff mit Macron im kleinen Kreis.

Am Freitag dann der Digital-Gipfel. Schnelles Internet, digitale Wirtschaft und Behörden, Cybersicherheit. Die Esten halten sich für die digitalen Weltmeister, was nichts daran ändert, dass bei den 600 Journalisten im Pressezentrum auch mal das Internet schwächelt, wie so oft irgendwo in Europa.

Merkel betritt den Tagungsort im „Kultuurikatel“, einer zum schicken Treffpunkt umgebauten Industrieanlage am Hafen. Kein Wort an die wartenden Journalisten. Das ist ungewöhnlich. Nur mit dem estnischen Ministerpräsidenten Jüri Ratas plaudert sie kurz. „Everything is fine“ versichert sie, etwas fahrig. „Alles ist gut“. Ganz überzeugend wirkt das nicht.

Natürlich gibt es den Verdacht, Merkel werde sich um klare Positionen zu Macrons Plänen eher drücken, solange ihre neue Regierung nicht steht. Und ebenso erwartbar weist sie dies zurück und nennt ausnahmsweise sogar konkrete Punkte: Die „Harmonisierung der Unternehmensteuern und des Insolvenzrechts“ könnten auch in den Koalitionsgesprächen Thema sein. Knackpunkte bei der Regierungsbildung werden das sicher nicht.

In Merkels Umgebung gibt man sich jedenfalls entspannt und versucht, die Aufregung über Macron ein wenig zu dämpfen. Die Reform der EU sei schließlich ein langer Prozess, zunächst müssten Ziele formuliert werden, dann Verfahren und Formate. Und manche Themen seien eben schwieriger als andere. Bis irgendetwas entschieden werde, sei die neue Bundesregierung längst im Amt. Deutscher Pragmatismus gegen französisches Pathos - so neu ist das alles nicht.

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