Medien sehen Kanzlerin Merkel in der „Böhmermann-Falle“

Berlin (dpa) - Der Streit um das Schmähgedicht von Jan Böhmermann über den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ist in der öffentlichen Wahrnehmung längst mehr als die Auseinandersetzung um eine mögliche Beleidigung eines Staatsoberhauptes.

Medien sehen Kanzlerin Merkel in der „Böhmermann-Falle“
Foto: dpa

Viele europäische Medien verknüpfen in ihren Kommentaren die Diskussion mit dem Flüchtlingsdeal zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Die Mailander Zeitung „Il Giornale“ spricht von einem „Dilemma“ für Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Wiener „Kronen Zeitung“ sieht sie in der „Böhmermann-Falle“. Für den britischen Sender BBC hat der ZDF-Moderator mit seiner Aktion kurzerhand das öffentlich-rechtliche Fernsehen revolutioniert.

BBC (London): „Für manche war das Gedicht kindisch, vulgär und unverantwortlich in einer Zeit, in der Europa auf die Hilfe der Türkei in der Flüchtlingskrise angewiesen ist. Für andere war es ein geniales Werk subversiver Kunst, das die Bedeutung der Meinungsfreiheit in den Fokus rückte (...) Auf clevere, lustige und komplexe Weise hat er (Böhmermann) so im Alleingang das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen revolutioniert.“

„Il Giornale“ (Italien): „Soll sie einen Komiker fünf Jahre ins Gefängnis schicken oder ihren Alliierten im Kampf gegen die Migration verärgern (...)? Das ist das Dilemma der Regierung von Angela Merkel.“

„Kronen Zeitung“ (Wien): „Kanzlerin Merkel sitzt in der Böhmermann-Falle.“

„Kurier“ (Wien): „Präziser hat die Schnittstelle zwischen Kunst und Politik noch keiner bespielt: Der ZDF-Satiriker Jan Böhmermann fordert mit seinem Schmäh-Gedicht das demokratische Selbstverständnis von Kanzlerin Angela Merkel genauso heraus wie das autokratische Ego des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.“

„Die Presse“ (Wien): „Jan Böhmermanns Scherze wirken oft erst auf der Metaebene. Doch sein Erdogan-Schmähgedicht scheint nicht wie bisherige Coups aufzugehen.“

„The Intercept“ (US-Enthüllungsportal): „Amerikaner, die sich fragen, wie ihr Leben in naher Zukunft aussehen könnte - nachdem ein Präsident Donald Trump sein Versprechen einlöst, „unsere Gesetze über Verleumdung und üble Nachrede zu erweitern“, damit Politiker mit leicht verletzlichen Egos Reporter oder Kommentatoren verklagen können, weil sie ihre Gefühle verletzt haben - sollten darauf achten, was diese Woche in Deutschland passiert.“

„Sydsvenskan“ (Malmö): „Darüber hinaus erfordert der Paragraf, auf den Erdogan sich zuerst berufen hat, dass die deutsche Regierung nun entscheiden muss, ob Böhmermanns Gedicht vor Gericht landen soll oder nicht. Damit wurde Angela Merkel zur ersten Instanz in einem Fall zwischen den Prinzipien ihres eigenen Landes zur Meinungsfreiheit auf der einen Seite und ihrem türkischen „Partner in crime“ auf der anderen Seite gemacht. Das ist es, was Böhermanns Satire so gefährlich genial macht. Die Spitze richtet sich gegen Erdogan. Aber es offenbart ganz Europas Flachheit und Willen, beim Recht der Menschen auf Asyl Kompromisse einzugehen.“

„Kristeligt Dagblad“ (Kopenhagen): „Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist in letzter Zeit hart gegen Kritiker in seinem eigenen Land vorgegangen: Zeitungen sind vom Staat zwangsübernommen und Journalisten ins Gefängnis gebracht worden. Jetzt schlägt der Präsident auch außerhalb der türkischen Grenzen zu.“

„Aftenposten“ (Oslo): „Der türkische Präsident hat bei Angela Merkels Verhandlungen über den Stopp des Flüchtlingsstroms nach Europa auf der anderen Seite des Tisches gesessen. Der Preis dafür, dass Europa Boote mit Flüchtlingen zurück in die Türkei schicken konnte, war nominal sechs Milliarden Euro. Aber niemand hat etwas darüber gesagt, dass Europa dafür den Humor des Präsidenten importieren muss, der von dem narzisstischen Selbstbewusstsein eines Diktators geprägt zu sein scheint. Um so mehr Grund, Jan Böhmermann zu unterstützen.“

„Tagesanzeiger“ (Zürich): „Lasst die Gerichte sprechen (...) Deutschland stellt sich vor den Satiriker Jan Böhmermann und glaubt, mit dessen Freiheit auch seine eigene verteidigen zu müssen. Aber Vorabfreisprüche sind genauso schädlich wie Vorverurteilungen.“

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