Expertin: Chancen und Risiken für Überlebende

Berlin (dpa) - Angst, Schlaflosigkeit und die Wiederkehr grausamer Bilder im Kopf: All das kann der Prozess gegen den Massenmörder Breivik bei Überlebenden und Angehörigen auslösen, sagen Experten.

Aber: Richtig genutzt bietet er auch eine Chance.

„Wenn sie im Saal sitzen, wenn sie diesen Menschen sehen und wenn das alles wieder erzählt wird, dann kann das die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung wieder auslösen“, sagte die Therapeutin und Trauma-Expertin Sybille Jatzko am Mittwoch in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. „Das führt zu Schlaflosigkeit, zu Ängstlichkeit, zu eigenem Misstrauen und immer wiederkehrenden Bildern.“ Auch Angehörige, die bislang nicht unter diesen Symptomen gelitten hätten, könne es treffen. Gleichzeitig sei der Prozess aber auch eine Möglichkeit für die Hinterbliebenen, das Geschehene zu verarbeiten.

„Wenn man sich einmal damit konfrontiert und die Fragen, die es in einem aufwirft, durch einen Prozess des Sprechens miteinander bearbeitet, dann kann selbst dieser sehr, sehr belastende Prozess für die Traumatisierten eine Form der Bearbeitung sein kann“, sagte Jatzko, die seit mehr als 20 Jahren Überlebende und Hinterbliebene von Katastrophen begleitet. „Dann haben sie hinterher das Gefühl, sie haben einen Schritt in Richtung Bewältigung getan.“

Viele Angehörige hätten den dringenden Wunsch, dem Täter einmal in die Augen zu sehen. „Weil sie das Bedürfnis haben, Reue zu erkennen, oder zu verstehen, warum dieser Mensch das getan hat.“ Bei Anders Breivik sei allerdings nicht zu erwarten, dass sich diese Fragen wirklich klären ließen. „Es ist für die Angehörigen sehr schwer nachzuvollziehen, welche Gründe und welche Persönlichkeit er hat, so dass sicher Fragen offen bleiben werden. Reue werden sie bei ihm wahrscheinlich nicht finden.“

Grundsätzlich gehe jeder Mensch anders mit einer solchen Situation um. „Der Mensch spürt selber, wie viel er sich konfrontieren muss“, sagte Jatzko. „Es wird auch viele Überlebende und Hinterbliebene geben, die sich nicht konfrontieren können - und die es auch gar nicht wollen.“ Diese Menschen schützten sich so. Wichtig sei aber, dass auch sie jemanden hätten, mit dem sie über das Erlebte sprechen könnten. Nur so könnten sie einen Weg finden, das Geschehene in ihr zukünftiges Leben zu integrieren.

Auch die Medien könnten eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung spielen. In Befragungen gäben Hinterbliebene das als sehr wichtig an, sagte Jatzko: „Das sind oft nach Jahren die einzigen, die sich noch für sie interessieren, wenn auch innerhalb der Gesellschaft nach der Katastrophe, die sie erlebt haben, gar nicht mehr gefragt wird.“ Ein zu starkes Einmischen in persönliche Angelegenheiten - wie etwa bei Boulevardmedien - sei allerdings kontraproduktiv. „Das wird als belastend empfunden, und da haben die Menschen das Gefühl, sie müssen sich schützen.“

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